2012
# 10 Rush - Clockwork Angels
Die alten Herren und ihr vermutlich letztes Album. Fünf Jahre nach dem eher schwachen Snakes & Arrows schafft es die Band, noch einmal ein überdurchschnittlich gutes Werk abzuliefern. Auch wenn die Großtaten aus den Siebzigern und Achtzigern natürlich unerreichbar bleiben, ist Clockwork Angels das beste Album seit Counterparts.
Dass ich mit den „neueren“ Rush nicht so viel anfangen kann, ändert auch Clockwork Angels nicht, allerdings landet es doch ab und an im Player. Der Grund dafür sind wohl die (wieder vermehrt) guten Melodien und das starke Songwriting. Der „raue“ Rocksound, der weiterhin bestimmend ist, stört mich komischerweise bei dieser Band – ich mag Rush lieber smooth und mit Vokuhila-Keyboards. Aber das ist ganz allein mein Problem.
Die Songs sind grandios gespielt und produziert, auch wenn es mir an manchen Stellen zu metallisch kracht. Sollte es tatsächlich das letzte Album der Band sein, haben sie es geschafft, eine fast makellose Discographie mit diesem Werk zu einem würdigen Ende zu bringen. Im Bereich Rock gibt es kaum eine andere Band, die so viele qualitativ hochwertige Alben veröffentlicht hat wie die drei Kanadier.
# 09 Japandroids - Celebration Rock
Die zwei Wunderkanadier zelebrieren ihre Rockmusik genau so, wie man sie lieben sollte: laut, krachig, auf den Punkt, durchdacht, leicht punkig und mit einem Gespür für großartige Melodien. Das zweite Album ist zwar nicht mehr ganz so rau und ruppig wie Post-Nothing mit seinem traumhaften Snare-Sound, bietet aber wieder das gleiche Maß an energiegeladenen und dreckigen Männermelodien für die „Unterschicht“.
Es ist eine Freude, dem Zusammenspiel von Schlagzeug und Gitarre beizuwohnen und dabei an die guten alten Hüsker Dü erinnert zu werden. Es wummst und fetzt an allen Ecken, die Produktion ist fantastisch, der Sound zum Niederknien und die Songs sind so gut, dass man sich ernsthaft fragt, wie zwei Leute das so grandios hinbekommen. Als gnadenloser Detroit-Rock-Worshipper habe ich die Band natürlich schon mit dem Debüt in mein Herz geschlossen. Ursprünglicher kann man Rockmusik kaum spielen.
# 08 Dordeduh - Dar de Duh
Nachdem 2009 die Band Negură Bunget zerfiel und die beiden kreativen Köpfe Hupogrammos und Sol Faur mit ihrer neuen Band Dordeduh weitermachten, verkam Negură Bunget zu einer austauschbaren Humpa-Band. Mit den drei Nachfolgern zu dem Meilenstein OM lieferten sie unglaublich uninspiriertes Material ab, das schließlich durch den frühen Tod des verbliebenen Drummers Negru ein Ende fand und die Band sich von selbst auflöste.
Lange hat es gedauert, bis das erste Dordeduh-Album schließlich fertig war, und so erschien Dar de Duh zwei Jahre nach der eher leichtfüßigen EP Valea Omului im Jahr 2012. Anfangs tat ich mich mit dem etwas klinischeren Sound und der geschliffeneren Produktion schwer, fand dann aber nach jedem Hören immer tiefer in das Werk hinein. Und auch hier wird wieder unglaublich viel geboten: von der Vielschichtigkeit der Instrumentalisierung, den großflächigen Keyboardsounds, der eigenwilligen Gitarrenarbeit bis hin zum abwechslungsreichen Gesang und dem sagenhaften atmosphärischen Teppich.
Auffällig ist auch der mittlerweile technisch gereifte Gesang, der auf dem Album eine zentrale Rolle einnimmt. Hupogrammos kreischt, growlt, flüstert und singt mit normaler Klarstimme, als ob es nie anders gewesen wäre. Die Songs sind nicht mehr so stark verschlossen und rätselhaft wie auf OM, bieten dafür aber eingängigere Riffs und zugänglicheres Songwriting. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass hier ein ebenbürtiger OM-Nachfolger entsteht, aber wenn man sich an die ruhigere und weniger komplexe Herangehensweise gewöhnt, ist Dar de Duh viel mehr der inoffizielle Nachfolger als die letzten drei Alben von Negură Bunget.
Einzig das saubere und zu gekonnte Schlagzeugspiel stört mich immer noch und passt nicht wirklich zu dem urigen und kauzigen Stil – da passte das krumme und leicht schräge Gerumpel von Negru eindeutig besser zum Sound. Der Nachfolger lässt nun auch schon fast acht Jahre auf sich warten, soll aber wohl bereits seit diesem Jahr in Arbeit sein. Es wäre wirklich schade, wenn man von diesen beiden überaus talentierten Musikern nichts mehr zu hören bekommt.
# 07 Tame Impala - Lonerism
Das zweite Album von Kevin Parker knüpft direkt an das Debüt an und begeistert mit Psychedelic Rock und starkem Beatles-Einschlag. In seinem Heimstudio kreierte der Australier einen Sound, der direkt aus den späten Sechzigern entsprungen zu sein scheint. Einfache, aber knackige Schlagzeugbeats, Hall, Verzerrungen, Effekte, Synthesizer-Fantasien, kratzige Übersteuerungen, drogenvernebelte Gesangsparts und eine fantastische, dünne Gitarre bestimmen das Klangbild. Vieles erinnert an die psychedelische Phase der Beatles – wirkt jedoch in der heutigen Zeit fast schon eigenartig und aus der Zeit gefallen.
Die kreative Gestaltung von Sound und Songs sowie das bemerkenswerte musikalische Talent von Kevin Parker lassen bereits erahnen, was 2015 mit dem epochalen Meisterwerk Currents folgen wird. Lonerism ist auch gleichzeitig Balsam für die Ohren, wenn man sich fragt, warum viele heutige Produktionen einfach nur noch künstlich und unerträglich klingen.
# 06 Dead Can Dance - Anastasis
16 Jahre nach dem letzten Album Spiritchaser fanden Lisa Gerrard und Brendan Perry endlich wieder zusammen, und Anhänger der Band beteten weltweit zum Himmel. Auch ich begab mich in die Fötusstellung und zitterte dem Veröffentlichungstermin entgegen. Und nun ja, anfangs war ich schon herb enttäuscht. Eine Band, die mit ihren Alben Musikgeschichte schrieb, sound- und produktionstechnisch sogar Größen wie Pink Floyd oder Peter Gabriel übertraf, und die mit jedem Album überraschte und neue Klangwelten erschuf, kam mit einem „auf Nummer sicher“-Album daher.
Viel schlimmer noch: Die Produktion entspricht nicht dem hohen Qualitätsstandard der Band und setzt zu sehr auf Elektronik und Studiospielereien. Ich habe mittlerweile meinen Frieden mit dem Album gefunden, vor allem nach dem phänomenalen Live-Erlebnis 2012 in München, und mich intensiver damit beschäftigt. Lässt man die Kritikpunkte außen vor, bleibt immer noch ein intensives Hörerlebnis mit einem Brendan Perry in Hochform und einigen versteckten Hits.
Dass Lisa Gerrard auf dem Album etwas zu kurz kommt, lässt vermuten, dass Perry den größten Teil des Albums im Alleingang geschrieben hat. Auch die Ähnlichkeit zu seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Solo-Album ist nicht zu überhören, hier jedoch aufgedonnert mit der typischen DCD-Soundwand. Dass das Album dennoch hätte besser ausfallen können, zeigen die Live-Qualitäten der Songs, denn diese kommen im „natürlichen“ Umfeld viel besser zur Geltung. Aber auch hier gilt wieder: Brendan Perry ist und bleibt die beste Stimme im Musikzirkus.
# 05 Dødsengel - Imperator
Was die beiden Norweger Kark und Malach Adonai mit diesem Mammutwerk 2012 auf die Menschheit abgefeuert haben, entzieht sich jeglicher Beschreibung. Nach dem bereits vorzüglichen Vorgänger überspannten die Norweger die Grenzen so weit, dass alles in sich zusammenfiel und daraus ein abartiger Sound entstand, der die frühe 90er Black Metal-Phase genauso bedient wie die mittlere experimentelle Welle à la Ulver, Arcturus oder Fleurety und gleichzeitig die Moderne kongenial integriert. Herausgekommen ist ein zweieinhalbstündiges Monster, das eine ungeheure Aufmerksamkeit voraussetzt und den Hörer quält und fordert – aber auch nach vielen Stunden begeisternd zurücklässt.
Nach dem unheilvollen Intro wird man mit Sun on Earth erst mal entbeint. Der nackte Wahnsinn peitscht mit unkontrollierten Psycho-Gitarrenriffs, schepperndem Schlagzeug und Rosinengesang die verkrustete Hirnrinde frei. Radikaler Wahnsinn in jeder Note. Die Norweger zelebrieren über die gesamte Spielzeit ein abwechslungsreiches Stimmungsmonument, das durch die unglaubliche Gesangsakrobatik von Kark dirigiert wird. Die intensive Besessenheit des Albums ist bis heute einzigartig, die Kompositionsstärke eine fast schon ausgestorbene Kunst des norwegischen Black Metal, und der grandiose Sound ist genau der richtige Mittelweg aus Tradition und Moderne.
Hätte ich es nicht bereits beim Vorgänger erkannt, hätte ich nie für möglich gehalten, dass nach einer so langen Durststrecke noch einmal eine so gewaltige Black Metal-Eruption aus Norwegen kommen könnte. Dødsengel haben mit Imperator nichts weniger als einen Meilenstein des Genres veröffentlicht, der endlich wieder die volle Größe der vergangenen Tage ohne Spinnweben in die Szene manifestiert hat.
# 04 Deftones - Koi No Yokan
Das 2012er Werk ist neben Saturday Night Wrist meine liebste Deftones-Platte und knallt trotz seiner eher ruhigeren Machart und dem leider zu stark komprimierten Sound an allen Ecken und Kanten. Die melancholische Stimmung steht im perfekten Kontrast zur brachialen Songdarbietung mit all ihren wuchtigen Bassgewittern und den krachigen, melodischen Gitarrenriffs, die durch das punktgenaue und grandios abwechslungsreiche Drumming zusammengehalten werden. Über all den lauten und leisen Momenten thront Chino Moreno mit seinem zutiefst intensiven und variablen Gesang, mit dem er jedem Song eine eigene Stimmung aufdrückt.
Dass die Band leider immer noch von vielen in die Nu Metal-Ecke gesteckt wird, ist bei all der musikalischen Qualität von Alben wie Diamond Eyes, Saturday Night Wrist oder Koi No Yokan nicht mehr nachvollziehbar. Wie gut laute und moderne Rockmusik zu klingen hat, kann man anhand der genannten Alben bestaunen.
# 03 Blut Aus Nord - 777 - Cosmosophy
Das Ende der 777-Trilogie ist gleichzeitig das beste Album neben und seit The Work Which Transforms God – ein Album, das ich so überhaupt nicht erwartet habe. Vindsval verzichtete auf dem dritten Teil fast vollständig auf Kreischgesang und setzt stattdessen auf Klargesang, dominiert die Songs mit noch mehr Electronica und entfesselt Melodien, die mir noch heute den Verstand rauben. Jedes Mal frage ich mich, wo zum Teufel der Franzose seine unerschöpfliche Kreativität und Ideen hernimmt. Das Tempo ist schleppend, die hymnische Gitarrenarbeit ungewöhnlich klar und melodisch, die Harmonien nachvollziehbar und wunderschön – alles, was man eigentlich nicht mit dem typischen, irrlichternden Horror-Sound von Blut Aus Nord in Verbindung bringt.
Und es funktioniert so perfekt miteinander: Der typische Blut Aus Nord-Sound ist in jeder Sekunde präsent, hier jedoch so fein und offen, dass man sofort Zugang zur Musik findet. Dass die komplexe und abweisende Stimmung dennoch dem Hörer einige Hindernisse in den Weg stellt, ist der größte Coup, den Vindsval bisher in seiner Karriere abgeliefert hat. Das Werk ist ein Sammelsurium an spacigen Gitarrenharmonien, die direkt aus den Weiten des Alls zu kommen scheinen, wilden Breaks und rhythmischen Vertracktheiten aus dem Drumcomputercockpit sowie malerischen Keyboard-Feierlichkeiten. Der sensationelle Aufbau der einzelnen Songs ist so stimmig, spannend und „überheblich“, dass man fast zu dem Schluss kommen muss, dass 777 - Cosmosophy irgendwo im Weltall produziert wurde. Einen ähnlichen Trip wie bei Epitome XVII habe ich selten erlebt. Für mich ist sicher: Dieses Werk gehört zu den besten (Black) Metal-Alben dieser Dekade und ist in all seiner Herrlichkeit eines der phantasievollsten Alben der letzten Jahre.
# 02 Swans - The Seer
Das erste „richtige“ Swans-Album seit 1996 ist zugleich der Auftakt der drei Doppeldecker-Meisterwerke in Folge. Nachdem sich die Schwäne 2010 nach 14 Jahren wieder in einer neuen Reinkarnation zusammenfanden und mit dem Album My Father Will Guide Me up a Rope to the Sky noch eher nach Michael Giras Soloarbeiten klangen, eröffneten die Swans zwei Jahre später mit The Seer ihre kompromisslose und apokalyptische Weltverschiebung.
„Your childhood is over“ wird im Opener ‘Lunacy‘ als düstere Prophezeiung gepredigt – und die musikalische Reise in die Welt des Schmerzes und der hypnotischen Wiederholungen beginnt. Die neuen Swans sind laut, sehr laut – Gira beansprucht seine Gitarre bis an die Grenze der Machbarkeit, prügelt auf die Saiten ein und entlockt dem Instrument Töne, die sich ins Fleisch brennen. Das Schlagzeug ist groovend und brachial, die Produktion versetzt den Hörer mitten in den Höllenlärm. Gira versteht es dennoch wie kaum ein anderer, ruhige und leise Parts in den Krach einzuflechten, sodass man sich inmitten der unerbittlichen Mischung aus Noise, Folk, Psychedelic und Krautrock mehr als einmal an seine Grenzen gebracht fühlt.
Die Musik ist schwer, drückend, anstrengend und oft schmerzhaft langgezogen, doch belohnt wird man immer wieder mit kleinen, versteckten Melodien und Harmonien, die einen aus dem Delirium holen. Gira setzt auf ein großes Instrumentenrepertoire, darunter Steel Guitar, Mandoline, Klarinette, Dulcimer, Akkordeon, Cello, Hörner, Bagpipe, Violine, Piano, Synthesizer und verschiedene Percussion. Diese Vielfalt erzeugt eine massive Klangwelt, die für die neuen Swans steht – eine Band, die auf ihre lange Karriere zurückblickt und sich aus jeder Phase bedient, um einen völlig neuen Sound zu kreieren.
Michael Gira verstärkt mit seinem schamanenhaften Predigergesang die „Hässlichkeit“ der Swans. Auf The Seer noch etwas zurückhaltend, entfesselt er auf den folgenden Alben seine unbändige Giftsuppe aus Wörtern und unterschiedlichen Stimmlagen, die den Hörer oft an seine Schmerzgrenzen bringt. The Seer ist das ruhigste Werk der drei Doppelalben, doch unter der Oberfläche brodelt bereits ein unüberhörbares Inferno. Einige Songs sind noch nicht völlig ausgereift und suhlen sich in quälend langen Parts – aber das gehört zu den Swans dazu. Da muss man durch.
Ein erschütterndes Meisterwerk ist The Seer dennoch: Die kompromisslose Intensität, die nervenaufreibenden Wiederholungen und die brachiale Gewalt der Songs sowie die Vielzahl an Stimmungen und die cleveren Songaufbauten nehmen vieles vorweg, was zwei Jahre später mit dem kolossalen To Be Kind zur ausgereiften Größe in die moderne Rockgeschichte eingehen wird.
# 01 Lunar Aurora - Hoagascht
Das letzte Album der Rosenheimer gehört mit zum Besten, was der deutsche Musikmarkt im neuen Jahrtausend zu bieten hat. Hoagascht ist so beängstigend perfekt, dass ich es auch heute immer noch nicht wahrhaben möchte, dass das Kapitel Lunar Aurora beendet ist. Die Rosenheimer singen auf ihrem Schwanengesang im strengen urbayrischen Dialekt, verwandeln dies in hörbare Kunst und verabschieden sich mit einem Werk, das so einzigartig in der (Black) Metal-Landschaft steht und bis heute zu den großartigsten Alben gehört, die ich aus diesem Genre gehört habe.
Mir ist kein anderes Album der letzten Jahre bekannt, das so stimmig und gleichzeitig so komplex im Sounddesign und Aufbau ist. Die erzeugte Atmosphäre ist schlichtweg nicht in Worte zu fassen: kunstvoll eingesetzte Keyboards, die überwältigen; umwerfende Melodien von übergroßer Schönheit; ein herrlich uriger Sound; ein perfekt programmierter Drumcomputer; sensationell harmonische, schwebende Riffs und ein Songwriting, das zum Niederknien ist.
Jeder Song ist ein Kunstwerk für sich. Die darin enthaltenen Ideen und Soundkreationen sind unfassbar ausgereift, und die verträumte Atmosphäre ist so gut eingefangen, wie ich es auf kaum einem anderen Album je so intensiv erlebt habe.
Dass das eigentliche Abschiedswerk Andacht schon ein Ausnahmemeisterwerk war, macht es umso erstaunlicher, dass Lunar Aurora mit Hoagascht die Qualität nochmals steigern konnten. Besser hätte die beste deutsche Black Metal-Band nicht abtreten können. Mit ihren Alben nach der Jahrtausendwende haben die Bayern ausschließlich Meisterwerke geschaffen, die ich persönlich zu den besten Alben des Black Metal-Genres zähle – und Hoagascht ist nichts weniger als ein perfektes Wunder.