Montag, 29. Februar 2016

The Who - Who's Next

The Who - Who's Next 

Die Frage, welches das beste Rockalbum aller Zeiten ist, bleibt ein ewiger Streitpunkt. Persönliche Vorlieben sind dabei oft entscheidender als objektive Maßstäbe. Für den heutigen Tag ernenne ich „Who's Next“ zu diesem Titel und tue dies mit großer Überzeugung. Pete Townshend schrieb den Großteil des Albums allein und schuf dabei eine wegweisende Neuerung im Rocksound, indem er Synthesizer mit visionärer Konsequenz in die Musik integrierte. Diese Entscheidung ebnete den Weg für eine neue Evolutionsstufe des Rock, die noch Jahre später nachhallte. Es ist ein Album, das einer der großartigsten Rockbands ihrer Ära und vielleicht aller Zeiten auf dem Gipfel ihres kreativen Schaffens einfängt und ein Meilenstein in der Geschichte der Musikproduktion. Doch all die technologische Innovation wäre bedeutungslos, wenn die Songs selbst nicht überzeugen würden – und genau das schaffen sie: Jeder einzelne Track auf „Who's Next“ bewegt, begeistert und entfacht Leidenschaft.

Die Eröffnung des Albums mit dem legendären ‚Baba O'Riley‘ ist nichts weniger als ein Statement: Hier beginnt eine neue Ära des Rock. Die pulsierenden, fast hypnotischen Synth-Sequenzen aus dem EMS VCS 3 und ARP 2600 (die von Townshend manuell programmiert wurden), die dem Song vorausgehen, ebnen den Weg für eine musikalische Revolution, die weit über die bloße Verwendung neuer Technologien hinausgeht. Entstanden nach der aufgegebenen Rockoper „Lifehouse“, kanalisiert das Album all die ungenutzten Ideen dieses gescheiterten Mammutprojekts und verdichtet sie zu einer Sammlung von Songs, die in ihrer Kraft und Raffinesse ihresgleichen sucht. „Who’s Next“ ist die perfekte Synthese aus epischen Visionen und roher, ungebändigter Rockenergie.

The Who, das sind erst mal vordergründig halbstarke Musiker, die sich oberflächlich hinter ihrer Show und dem rohen Sound verstecken. Bei näherer Betrachtung zeigen sie sich jedoch als vier Virtuosen, die jeder für sich auf besondere Weise prägend für die Entwicklung der Rockmusik waren. Allen voran Keith Moon, der leider viel zu oft nur wegen seiner extraordinären Liveauftritte genannt wird, war ein sagenhafter Rockschlagzeuger, der bis heute, lange nach seinem Tod, unerreicht ist. Moon zeigte während der Sessions beeindruckende Disziplin und Kreativität. Sein chaotischer, aber präziser Stil wurde durch die Struktur der Songs brillant kanalisiert. Sein Stil, voller Energie und Unberechenbarkeit, wird nach wie vor immer wieder kopiert und eingesetzt. Keith Moon verstand es, seine scheinbar grenzenlose Energie in eine präzise und dynamische Performance zu übersetzen, die perfekt in den Kontext der Band passte. Moons Fähigkeit, die traditionellen Regeln des Schlagzeugspiels neu zu definieren, veränderte die Art und Weise, wie Schlagzeug in der Rockmusik gedacht und gespielt wird.

Mit Roger Daltrey besaß die Gruppe einen schlicht perfekten Rocksänger, der mit seiner kräftigen und ausdrucksstarken Stimme jeden Ton traf und weder in Eunuchengeheul ausbrach noch in psychedelischen Drogengejammer versank. Daltrey erreicht auf diesem Album eine gesangliche Ausdruckskraft, die perfekt zu den dynamischen Spannungsbögen der Musik passt. Er schafft es, Townshends introspektive und emotionale Texte mit einer unnachahmlichen Dramatik zu transportieren, ohne jemals ins Übertriebene abzurutschen, und ist das stimmliche Rückgrat der Band, das all die musikalischen Eskapaden zusammenhält.

John Entwistle, bekannt als Thunderfingers, war möglicherweise der talentierteste und eigenwilligste Bassist in der Geschichte des Rock. Seine Spielweise ist unnachahmlich und hat Maßstäbe gesetzt, die bis heute unerreicht bleiben. Entwistles Basslinien auf „Who’s Next“ sind komplex, melodisch und erheben den Bass zu einer tragenden, gestalterischen Kraft, die über das bloße rhythmische Fundament hinausgeht. Er füllte die musikalischen Zwischenräume mit einer solchen Virtuosität, dass die Musik eine Tiefe erhielt, die The Who von ihren Zeitgenossen abhob. Sein Spiel fügt den Songs eine Dimension hinzu, die den typischen, einfachen Rockbass weit übertrifft und zeigt, wie der Bass als melodisches und harmonisches Element die Musik bereichern kann.

Pete Townshend, das kreative Herz der Band, mag im Vergleich zu Moon und Entwistle nicht wie ein technischer Virtuose wirken, doch seine Bedeutung als Visionär und Hauptsongwriter ist unbestritten. Sein unverwechselbarer Gitarrenstil beeinflusste die Entwicklung von Hard Rock, Heavy Metal und Punk entscheidend. Mit „Who's Next“ und dem nachfolgenden epochalen Konzeptalbum „Quadrophenia“ etablierte Townshend sich endgültig als kreative Schlüsselfigur von The Who. Sein Gitarrenspiel und seine Fähigkeit, durch Musik komplexe, emotionale Geschichten zu erzählen, machten ihn zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Rockgeschichte. Townshend war nicht nur Gitarrist, sondern auch Komponist, der die traditionellen Formen des Rock immer wieder infrage stellte und erweiterte, um neue musikalische Möglichkeiten zu erschließen.

„Who's Next“ zeigt eine Band, die sich auf einer schier unmenschlichen kreativen Höhe befand – eine kompakte, perfekt funktionierende Einheit, die neun der besten Rocksongs aller Zeiten erschuf, eingekleidet in einem bis heute fantastischen Mördersound. Hört mal, wie das Schlagzeug klingt! Glyn Johns setzte hier auf eine innovative Mikrofonierung, insbesondere bei Keith Moons Schlagzeug. Die „Overhead-Mikrofonierung“ wurde perfektioniert, um Moons Stil besser einzufangen. Produzent Glyn Johns brachte Klarheit und Struktur in die chaotischen Entstehungsprozesse und schuf eine klangliche Qualität, die bis heute als Maßstab gilt: Die Klarheit, die Brillanz und der Punch der Aufnahmen sind bemerkenswert, insbesondere angesichts der technischen Möglichkeiten des Jahres 1971. Die Studioarbeiten fanden hauptsächlich in den Olympic Studios in London statt, mit zusätzlichen Aufnahmen in den Rolling Stones Mobile Studios in Headley Grange. Die Energie der Band wurde in jedem Song eingefangen, ohne dabei an Authentizität zu verlieren, optisch mit einem sensationell angepissten Coverartwork von Ethan Russell versehen und technisch so weit fortgeschritten, dass selbst die damaligen Prog-Rock-Bands wie vergessene Waisenknaben aus der vergangenen Beat-Ära klangen. „Who’s Next“ ist bis heute, fast 55 Jahre später, immer noch eines der schlichtweg am besten klingenden Rockalben, die je entstanden sind.

Songs wie ‚Baba O'Riley‘, ‚The Song Is Over‘, ‚Behind Blue Eyes‘ oder ‚Won't Get Fooled Again‘ gehören zu den ausdrucksstärksten Kunststücken, die die Rockmusik jemals hervorgebracht hat. Sie zeigen The Who auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, als sie sowohl emotional tief berührende als auch musikalisch bahnbrechende Stücke schufen. „Who's Next“ vereint die Rebellion, die Innovation und die unbändige Kreativität, für die The Who immer standen und die sie zu einer der größten Rockbands aller Zeiten machten.

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