Samstag, 28. Dezember 2024

Gary Numan - Splinter (Songs from a Broken Mind)


Es gibt manchmal Momente in der Karriere eines Künstlers, die den Unterschied zwischen bloßer Nostalgie und echter kreativer Erneuerung markieren. Während viele seiner Zeitgenossen sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, tritt Gary Numan mit einem Werk hervor, das die Essenz seiner Vergangenheit bewahrt und dennoch eindrucksvoll im Hier und Jetzt verankert ist. „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ zeigt, wie ein Künstler, der die Geschichte der elektronischen Musik maßgeblich mitgeprägt hat, sich nicht nur neu erfinden, sondern auch tief in die düstere Welt seiner eigenen Emotionen eintauchen kann. Trotz ausgereifter, radiotauglicher Elektro-Pop-Nummern und starker Rock-Elemente fand das Album nicht die breite Anerkennung, die es verdient hätte.

Das Album beeindruckt durch eine dichte, sehr moderne Produktion, die Numans musikalische Entwicklung unterstreicht. Die Songs sind ausgefeilt und kraftvoll, verstärkt durch einen klaren, schweren Sound. Jeder Beat und jede Synthline wirken fast greifbar. Besonders auffällig ist, wie es Numan gelingt, eingängige Hits in einen elegischen Albumfluss einzubetten, ohne dabei den düsteren Grundton zu verlieren, der das gesamte Werk durchzieht. Die düsteren elektronischen Soundscapes sind nie Selbstzweck, sondern stets im Dienst der emotionalen Aussagekraft, die „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ vermittelt.

Von der ersten Sekunde an hüllt „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ den Hörer in eine dichte, apokalyptische Atmosphäre. Songs wie ‚I Am Dust‘ und ‚Love Hurt Bleed‘ lassen keinen Zweifel daran, dass Numan die klanglichen Grenzen auslotet, die er bereits in den 80er Jahren aufgezogen hat – nun jedoch mit einer Härte und Schwere, die enorm spürbar ist. Beeindruckend ist, wie er die elektronischen Arrangements mit kraftvollen, industriell angehauchten Rockelementen verbindet, ohne seine charakteristische Melancholie zu verlieren. „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ ist ein Album, das seine Wurzeln im Synthpop nicht verleugnet, aber durch die geschickte Fusion von Elektronik und Rock eine neue, finstere Tiefe erreicht.

Faszinierend ist auch, wie Numan seine Stimme einsetzt. Auch wenn sie nicht mehr so extravagant klingt wie in den späten Siebzigern und Achtzigern, passt sie perfekt zur melancholischen und düsteren Ausrichtung des Albums. Diese stimmliche Reife verleiht den Songs eine zusätzliche emotionale Ebene und macht deutlich, dass Numan auch im fortgeschrittenen Stadium seiner Karriere noch immer fähig ist, beeindruckende musikalische Statements abzugeben. Man hört deutlich, dass die Songs von einem Mann geschrieben wurden, der mit inneren Dämonen und existenzieller Unruhe kämpft. Seine stimmliche Darbietung auf „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ ist intensiver, reifer und verletzlicher als je zuvor. Titel wie ‚Here in the Black‘ und ‚The Calling‘ wirken wie dunkle Gebete, die zwischen Verzweiflung und Wut pendeln.

Trotz der dunklen, oft bedrückenden Themen strahlt das Album eine seltsame Hoffnung aus. In Songs wie ‚My Last Day‘ schimmert durch all die Dunkelheit und Melancholie ein Moment der Klarheit und Erlösung – ein letzter Blick auf die Sterne, bevor man in die Schwärze eintaucht. Es ist ein Album über inneren Zerfall, aber auch über den Überlebenswillen und die Kraft, die man aus den Ruinen ziehen kann.

Der Sound auf „Splinter (Songs from a Broken Mind)“ erinnert stark an den „Dark City“-Soundtrack, insbesondere an den Song ‚Dark‘, in dem Numan bereits 1998 die Blaupause für seine moderne Ausrichtung lieferte. Die Songs haben eine enorme Qualität, mit weiten, dröhnenden Klanglandschaften, die den Hörer unaufhaltsam in Numans dystopische Welt hineinziehen. Der „neue“ Numan klingt ernster, düsterer und kraftvoller als in seinen frühen Pionierzeiten, die zwar immer noch ihren Charme besitzen, aber in der heutigen Zeit etwas gezähmt wirken. Dieses Album zeigt, wie gut sich Numan in die moderne Musiklandschaft integriert hat, ohne seine Wurzeln zu verleugnen.

„Splinter (Songs from a Broken Mind)“ ist ein Beweis dafür, dass Gary Numan nicht nur eine Vergangenheit als Pionier der elektronischen Musik hat, sondern auch eine Gegenwart, die ihn als relevanten und kreativen Künstler zeigt. Sein Einfluss auf die moderne Musiklandschaft, insbesondere in den Bereichen Industrial und elektronischer Rock, ist nicht zu überhören. Es ist ein Album, das sowohl alte Fans als auch neue Hörer anspricht und das in seiner dunklen, kraftvollen Art tief beeindruckt. Der Nachfolger, der eigentlich fast noch besser ist, ist ebenfalls sehr empfehlenswert, wenn man mit diesem Stil etwas anfangen kann.

Sonntag, 8. Dezember 2024

Radiohead - Kid A


„Kid A“ wird oft als das definierende Millennium-Album bezeichnet, und obwohl es sicherlich viele andere Werke gibt, die für diese Zeit von Bedeutung sind, bleibt „Kid A“ unbestritten eines der faszinierendsten und ungewöhnlichsten „Mainstream“-Alben seiner Ära. Es ist ein Album, das nicht nur die musikalische Landschaft der frühen 2000er Jahre prägte, sondern auch die Vorstellung dessen, was ein erfolgreiches Rockalbum sein könnte, radikal veränderte und die Grenzen zwischen experimenteller Elektronik und Rock nicht nur verwischt, sondern gänzlich neu definiert.

Die Entstehungsgeschichte von „Kid A“ ist geprägt von einer künstlerischen Krise und die daraus resultierenden Neuerfindung. Nach dem überwältigenden Erfolg von „OK Computer“ fand sich die Band in einer kreativen Sackgasse wieder, gefangen zwischen den Erwartungen der Fans und dem eigenen Drang nach Innovation. In dieser Phase der Verunsicherung entdeckten Radiohead die Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung für sich - ein Werkzeug, das es ihnen erlaubte, ihre musikalische Vision jenseits etablierter Genregrenzen zu verwirklichen.

Während „OK Computer“ bereits den Weg zu komplexerer und experimenteller Musik geebnet hatte, erreichte Radiohead auf „Kid A“ eine ganz neue Stufe der Reife und Innovation. Die Band brach bewusst mit den Erwartungen, die an sie gestellt wurden, und tauchte tief in eine kybernetische Klangwelt ein, die oft als zu klinisch und kalt empfunden wird. Diese scheinbare Kälte, diese digital anmutende Atmosphäre, macht das Album so außergewöhnlich und verleiht ihm eine einzigartige, fast ungreifbare Schönheit. „Kid A“ markiert einen Quantensprung in der Evolution der Band - eine radikale Abkehr von konventionellen Rockstrukturen hin zu einer abstrakten, elektronisch geprägten Klangsprache.

„Kid A“ ist eine immersive Erfahrung, die den Hörer in eine andere Realität entführt. Eine faszinierende Collage aus schwebenden und atmosphärischen Synthesizerflächen, abstrakten Rhythmen, fragmentierten Melodien sowie dissonanten Klängen, die zusammen mit Thom Yorkes geisterhafter, oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrter und manipulierter Stimme einen surrealen Klangtrip erschaffen, der zugleich dystopisch und hypnotisch wirkt. Die Gitarre, einst das dominierende Instrument der Band, tritt auf dem Album in den Hintergrund, um Platz zu machen für eine Palette elektronischer Sounds, die von Ambient bis IDM reichen. Im Vergleich zum gitarrenlastigen, emotional direkten Sound früherer Alben wirkt „Kid A“ distanziert, fast klinisch in seiner Präzision. Diese klangliche Entfremdung spiegelt perfekt die Themen des Albums wider - Entmenschlichung, Technologieangst und existenzielle Isolation im digitalen Zeitalter.

Jeder Song scheint seine eigene kleine Welt zu erschaffen, und zusammen formen sie ein dichtes Netz aus Emotionen und Gedanken, das sich erst nach und nach vollständig erschließt. Besonders beeindruckend ist der Titelsong ‚Kid A‘, ein Stück, dessen abstrakte Schönheit an die experimentellen Werke von Aphex Twin erinnert. Die kindlich anmutende, stark verfremdete Stimme, eingebettet in ein Geflecht aus pulsierenden Synthesizern und geisterhaften Melodiefragmenten, schafft eine Atmosphäre, die zugleich unheimlich und seltsam tröstlich wirkt. Nicht minder faszinierend ist ‚Idioteque‘, ein Song, der mit seinen treibenden Beats und apokalyptischen Textzeilen wie „Ice age coming, ice age coming“ die Essenz des Albums perfekt einfängt. Es ist Tanzmusik für das Ende der Welt – ein hypnotischer Rhythmus, der den Hörer in einen Zustand ekstatischer Verzweiflung versetzt.

Die technologieorientierte Atmosphäre, die das Album durchzieht, ist vielleicht das, was es am meisten auszeichnet. Sie verleiht „Kid A“ eine Art distanzierte, aber dennoch intensive Emotionalität, die sich nicht sofort erschließt, sondern den Hörer fordert, sich auf eine tiefere Ebene einzulassen. Es ist Musik, die von Isolation spricht, von Entfremdung, und doch findet man in ihrer Komplexität und ihren Schichten eine seltsame Wärme und eine unerwartete menschliche Nähe.

Mit „Kid A“ bewiesen Radiohead nicht nur ihren Mut, Risiken einzugehen, sondern auch ihre Fähigkeit, den Mainstream auf eine tiefgründige und nachhaltige Weise zu verändern. Es ist ein Album, das seinen Platz in der Geschichte der 2000er Jahre verdient hat, nicht nur wegen seiner musikalischen Innovation und überragenden Klangästhetik, sondern auch wegen der Art und Weise, wie es die Grenzen dessen, was Popmusik sein kann, neu definiert hat. „Kid A“ ist ein prophetisches Meisterwerk der klanglichen Architektur – ein Album, das seinen Hörer in ein kybernetisches Labyrinth entführt, aus dem man nur schwer entkommt.

Cultes des Ghoules - Coven, Or Evil Ways Instead of Love


Es ist eine beachtliche Leistung, dass Cultes des Ghoules nach ihrem überwältigenden Opus „Henbane, ...or Sonic Compendium of the Black Arts“ – für mich eines der düstersten und kreativsten Black Metal-Werke des letzten Jahrzehnts – mit „Coven“ noch einmal eine Schippe drauflegen konnten. Realistisch betrachtet ist „Coven“ in allen Bereichen ausgereifter, fordernder und in seiner Vielfältigkeit nahezu überwältigend. Auf fast 100 Minuten entfaltet sich ein theatralischer Hexentanz, der den Hörer in eine Welt aus körnigen Schwarzweißbildern, verwaschenem Sepia und opulenten Arrangements entführt, die sich in ihrer epischen Breite auch mal über zwanzig Minuten erstrecken können.

Der fantastische, rohe Sound des Vorgängers wurde glücklicherweise beibehalten und sogar weiter verfeinert. Die Polen zelebrieren hier eine eindrucksvolle Symbiose aus Endsechziger-Protometal-Sounds, Hellhammer-Einflüssen und der andächtigen Referenz an die frühen Mercyful Fate. Dieses Klangbild wird zu einem intensiven Sounddesign zusammengeführt, das den Hörer unmittelbar in seinen Bann zieht. Die Produktion ist bemerkenswert ungeschliffen – jedes Instrument klingt so natürlich und unbearbeitet wie möglich, was dem Album eine Authentizität verleiht, die man in dieser Form nur selten findet. Es ist eine wahre Freude, diesem rohen, ungezähmten Treiben beizuwohnen, das dennoch durch seine akribische Detailverliebtheit besticht.

Besonders hervorzuheben ist, wie bereits auf dem Vorgänger, der grandiose, vielschichtige und unnatürlich kreative Gesang. Die Stimme, die hier in einer meisterhaften Aufführung die knisternde Spannung dirigiert, ist das zentrale Element, das die düstere Atmosphäre des Albums maßgeblich prägt. Diese vokale Darbietung ist weit mehr als bloßer Gesang; sie ist eine Inszenierung, die das gesamte Werk in eine düstere, fast schon greifbare Atmosphäre taucht.

„Coven“ ist ein Album, das vor Kreativität nur so strotzt, zugleich jedoch auf das Nötigste reduziert bleibt. Die Musiker setzen hier einfache, aber äußerst effektive Mittel ein, um ihre großartigen Kompositionen in Einklang zu bringen. Die Band hat ein Gespür dafür, ihre Kreativität in den Dienst der Kompositionen zu stellen, ohne sich in überflüssigen Schnörkeln zu verlieren. Jeder Song auf „Coven“ ist sorgfältig ausgearbeitet – es gibt keine Längen, keine überflüssigen Passagen – alles ist auf den Punkt gebracht und dient dem großen Ganzen. Wo „Henbane“ noch als Satans wilde Marathon-Sex-Orgie auf dem Hexentanzplatz inszeniert war, ist „Coven“ der direkte Einblick in den Kreißsaal von Walpurga Hausmännin.

„Coven“ fordert, es erschreckt, es fasziniert – und es zeigt einmal mehr, dass diese Band zu den innovativsten und faszinierendsten Vertretern ihres Genres gehört und hier ein Werk geschaffen hat, das sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft des Black Metal in sich trägt.

Freitag, 6. Dezember 2024

The Gault - Even As All Before Us

 

„Even As All Before Us“ ist ein Meisterwerk der Tristesse – ein Album, das inmitten einer eindrucksvollen Ästhetik des Post-Weltuntergangs die Vision einer trostlosen, entmenschlichten Landschaft heraufbeschwört. Es ist ein einzigartiges Werk, das eine beklemmende, fast unbehagliche Stimmung auf subtile Weise ergründet und dabei ein Höchstmaß an Ausdruckskraft und Hingabe erreicht.

Die Besetzung von The Gault ist ein „bunter“ Haufen aus Mitgliedern anderer Underground-Projekte wie Weakling, Amber Asylum und Asunder. Diese vielfältigen Hintergründe spiegeln sich in den unterschiedlichen Einflüssen dieses Werkes wider. Dennoch hat „Even As All Before Us“ eine ganz eigene Klangsprache entwickelt, die sich weder an den düsteren Black Metal-Arrangements von Weakling noch an den neoklassischen Klängen von Amber Asylum orientiert. Die Band bleibt ebenso flüchtig und mysteriös wie die Atmosphäre, die sie in ihrer Musik beschwört. In einer schwer fassbaren, fast zeitlosen Klanglandschaft entfaltet sie ein bedrückendes Bild von Leere, Resignation und der ständigen Bedrohung.

Das Album beginnt wie eine Einladung in eine Welt, die jeden Hoffnungsschimmer konsequent auslöscht und den Hörer von Anfang an mit einer zähen, fast erstickenden Dunkelheit konfrontiert. Die Gitarren wabern in monotonen, schummrigen Wellen und setzen eine träge Schwere frei, die alles einnimmt. Die Musik bewegt sich irgendwo zwischen Darkwave und Doom Metal – eine Synthese, die wie geschaffen scheint, um die unwirtlichen, schattigen Landschaften und die Atmosphäre von „Even As All Before Us“ zu vertiefen. Mit jedem Riff und jedem Beat, der in rhythmischer Trägheit verhalten durch das Werk pocht, verstärkt sich das Bild einer unendlich weiten, unbarmherzigen Landschaft.

Sänger Ed Kunakemakorn steht dabei im Mittelpunkt dieses düsteren Gemäldes – ein Erzähler, der zwischen Schmerz und Resignation taumelt und eine fast flehende Verzweiflung ausdrückt, die unweigerlich auf den Hörer überspringt. In Songs wie ‚County Road, Six Miles In‘ kanalisiert er eine Emotionstiefe, die nicht nur aus Worten besteht, sondern aus einer Art gebrochenem Schrei nach Sinn. Die Spannung, die sich in diesem Stück aufbaut, ist fast greifbar. Eine düstere, dicke Nebelwand aus schwebenden Gitarrenriffs und zermalmender Monotonie entfaltet sich, und man fühlt sich, als würde man langsam in diesen allumfassenden Nebel hineingezogen werden. Der Schmerz, der aus Kunakemakorns Gesang durchdringt, bildet den Kern dieser Musik. Hier wird nichts zurückgehalten – ein Song der Verzweiflung, ohne Maskierung, ohne Beschönigung.

Eine weitere faszinierende Stimme auf dem Album ist Lorraine Rath, deren Gesang einige Stücke ergänzt und eine zusätzliche, tiefgehende Ebene der Beklemmung erzeugt. Ihr Stimmeinsatz hat einen eigentümlichen, furchteinflößenden Klang, der wie ein kalter Hauch über die Musik gleitet und dem Hörer Schauer über den Rücken jagt – irgendwo zwischen Anziehung und Verstörung. In ‚The Shore Becomes The Enemy‘, dem vielleicht wuchtigsten Stück des Albums, treffen ihre geisterhaften Klänge auf Kunakemakorns Verzweiflung. Gemeinsam verstärken sie die Wirkung der tiefen, fast rituellen Gitarrenlinien. Der Song ist ein düsteres Epos, das sich an den schweren Klängen des Stoner Rock orientiert und wie ein leises, bedrohliches Gewitter heraufzieht.

Die instrumentale Struktur des Albums ist in ihrer Schlichtheit ebenso raffiniert wie verstörend. Es sind keine komplizierten, experimentellen Arrangements oder virtuosen Soli, die hier Spannung erzeugen, sondern die präzise gesetzte Langsamkeit und Wiederholung, die sich wie ein immer enger ziehendes Netz über den Hörer legt. The Gault beherrschen das Spiel mit Nuancen. Mal nur ein sanfter Anstieg im Bass, ein fast unhörbares Wabern der Gitarren oder ein nachhallender Beat – doch alles greift ineinander wie ein Getriebe, das unaufhörlich eine Katastrophe heraufbeschwört. Dabei zieht die Band aus ihren Einflüssen einen introspektiven Ansatz, der alle Konventionen ablegt und sich darauf konzentriert, ein Gefühl absoluter Ausweglosigkeit hervorzurufen.

Trotz seiner offensichtlichen Düsterkeit ist „Even As All Before Us“ jedoch nicht bloß ein suhlen in musikalischer Trostlosigkeit. Vielmehr vermittelt es eine gewisse Anmut, ein unerklärliches Gefühl für das Schöne im Verfall, eine Art stille Ehrfurcht vor der Endlichkeit. Diese Mischung aus Resignation und einer leisen, fast poetischen Akzeptanz der eigenen Vergänglichkeit verleiht dem Werk eine Tiefe, die es weit über die Grenzen typischer Doom- oder Düsterromantik hinaushebt.

Mittwoch, 4. Dezember 2024

Soft Cell - Non-Stop Erotic Cabaret

 

Es gibt nur wenige Alben, die so klingen, wie ihr Cover aussieht, und dabei die Seele des Covers in jedem Ton einfangen. Als Soft Cell 1981 mit „Non-Stop Erotic Cabaret“ die Bühne betraten, brachten sie etwas ganz Neues in die Musikwelt. Das Album ist eine düstere, aber gleichzeitig verführerische Mischung aus Synthpop und dekadenter Clubkultur. Es ist nicht nur ein Produkt seiner Zeit, sondern auch ein gewagter Blick hinter die schillernde Fassade des Nachtlebens - ein Werk, das ebenso verstörend wie verführerisch ist. Für mich steht dieses Album als perfekte Balance zwischen kühler, distanzierter Synthesizer-Musik und einem emotionalen, fast dekadenten Erzählen menschlicher Abgründe.

Marc Almond und David Ball, die beiden Köpfe hinter Soft Cell, schufen mit diesem Album eine düstere und zugleich verlockende Klangwelt, die die Grenzen zwischen Glamour und Abgrund, zwischen Hedonismus und innerer Leere verschwimmen lässt. „Non-Stop Erotic Cabaret“ ist eine Festveranstaltung der Dekadenz, ein kaleidoskopisches Porträt der Nachtwelt, das uns in eine sündige, synthetische Realität entführt, voller Schatten und flackerndem Neonlicht. Das Album markierte nicht nur den Durchbruch von Soft Cell, sondern stellte auch einen Wendepunkt in der Geschichte der elektronischen Popmusik dar. Es gelang ihnen, kommerziellen Erfolg und künstlerische Integrität in einer Weise zu vereinen, die in der oft oberflächlichen Welt des Synthpop einzigartig ist.

Soft Cell entstanden zu einer Zeit, als die elektronische Musik gerade begann, das musikalische Mainstream-Bewusstsein zu durchdringen. Während Vorreiter wie Kraftwerk und Gary Numan den Grundstein für die kommerzielle Akzeptanz von Synthesizern gelegt hatten, brachte Soft Cell einen neuen, radikaleren Ansatz in die Popmusik ein. Marc Almond, ein schillernder, expressiver Sänger, der in seiner theatralischen Darstellung fast an die Tradition der britischen Music Hall erinnert, und David Ball, ein Meister der minimalen, aber wirkungsvollen Synth-Arrangements, bildeten ein Duo, das den Synthpop mit einer bisher unbekannten, dunklen Erotik auflud. Mit „Non-Stop Erotic Cabaret“ wurden sie zu Ikonen der frühen 1980er Jahre und ebneten den Weg für nachfolgende Generationen elektronischer Künstler.

Das Album taucht vom ersten Ton an in eine düstere, fast surrealistische Atmosphäre ein. Der Sound ist minimalistisch, doch gleichzeitig überwältigend in seiner emotionalen Intensität. David Balls minimalistische, aber kraftvolle Synth-Arrangements sind die perfekte Kulisse für diese Geschichten. Balls Synthesizer erschaffen eine sterile, kühle Klangwelt, die die Themen des Albums – sexuelle Freiheit, moralischer Verfall, die Suche nach Identität – perfekt widerspiegelt. Die Synths und Beats sind zwar einfach gehalten, doch in ihrer schroffen Direktheit transportieren sie eine unbändige Energie, die den Songs ihre zeitlose Kraft verleiht.

Almonds Stimme ist der emotionale Mittelpunkt des Albums. Er singt nicht nur, er verkörpert jede Zeile, jeden Vers. Seine Darbietung ist (vermutlich) absichtlich überzogen, doch in dieser Übertreibung liegt eine tiefere Wahrheit, eine spürbare Authentizität. Er wechselt mühelos zwischen dem Flüstern eines Verführers und den verzweifelten Schreien eines Mannes, der von seinen eigenen Dämonen gejagt wird. Die Texte, voller dunkler Anspielungen und scharfkantiger Metaphern, schaffen eine Struktur, die in eine Welt entführt, in der Lust und Verlust untrennbar miteinander verbunden sind.

Der vielleicht eindringlichste Moment des Albums findet sich in ‚Sex Dwarf‘. Hier verschmelzen provokante Lyrics mit einer fast „brutalen“ musikalischen Intensität. Der stampfende Beat und die schrillen Synthesizer-Linien treiben den Song vorwärts, während Almond Bilder von Dekadenz und Perversion heraufbeschwört. ‚Sex Dwarf‘ ist ein bewusst geschmackloses Statement, das die Grenzen des guten Geschmacks bewusst überschreitet und gerade dadurch die Doppelmoral der Gesellschaft entlarvt.

Ein weiterer herausragender Höhepunkt – und der beste Soft Cell-Song – ist ‚Say Hello, Wave Goodbye‘. In diesem bittersüßen Abschiedssong verdichtet sich die Essenz des melancholischen Pop. Die Geschichte einer gescheiterten Affäre wird von einem elegischen Synthesizer-Teppich getragen, der gleichermaßen tröstend und schmerzlich ist. Almonds Performance hier ist herzzerreißend, seine Stimme schwebt zwischen Stolz und gebrochener Verwundbarkeit. Wenn die plötzlich ergreifende Synthesizer-Wucht zusammen mit Almonds unglaublich intensiven gesungenem „Take your hands off me“ einsetzt, ist es für mich tatsächlich der beste Song, der in den Achtzigern geschrieben wurde.

Die düstere Erotik und das Gefühl der Entfremdung, das das Album durchzieht, machten es zu einem wichtigen kulturellen Dokument, das die aufkommende Underground-Kultur der 1980er Jahre widerspiegelte. Die künstlerische Radikalität dieses Albums, seine Bereitschaft, die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten und Themen zu erkunden, die andere Künstler scheuten, machen es zu einem Meisterwerk der Pop-Geschichte. „Non-Stop Erotic Cabaret“ bleibt ein Werk, das bis heute sowohl musikalisch als auch thematisch mutig und innovativ ist.

„Non-Stop Erotic Cabaret“ ist das prägende Werk, das die Essenz von Soft Cells künstlerischer Vision destilliert – ihr Meisterwerk, das die 80er Jahre nicht nur musikalisch, sondern auch visuell und ästhetisch geprägt hat und eine klare, fast kalte Ästhetik verfolgt.

Und mittlerweile ist es wohl mein Lieblingsalbum aus diesem Bereich, auch wenn es eigentlich „Vienna“, „Rio“, „Dazzle Ships“ oder unter vorgehaltener Hand „A Secret Wish“ sein müsste.