Sonntag, 4. Mai 2025

Wire - 154

"154" ist das Album, auf das Wire wohl schon immer hingearbeitet haben, ein Meisterwerk der Post Punk-Bewegung, das eine kühle, abweisende Schönheit in Klang und Konzept entfaltet und als eines der visionärsten Alben dieser Ära gilt. Für viele mögen die kantige Energie von "Pink Flag" oder die Experimentierfreude von "Chairs Missing" die prägenden Meilensteine sein, doch "154" veredelt alle ungeschliffenen Ideen seiner Vorgänger und präsentiert sich in einem makellos gegossenen, erschreckend klaren Klangbild. Die Songs wirken wie ein kaltes, reflektierendes Prisma, das die inneren Spannungen und das kreative Unbehagen der Band in einer unterkühlten, metallischen und gleichzeitig zutiefst melancholischen Atmosphäre einfängt. 

Dieses Album ist nicht bloß der dritte Streich einer einst als Amateur-Provokation gestarteten Band; es ist eine glasklare, schillernde Antithese zur ursprünglich wilden, ungebändigten Punk-Bewegung, die 1979 in Wires Händen zu einem ganz neuen Ausdruck reift.
Wires Entwicklung ist auf "154" nicht nur hör-, sondern spürbar. Die "Dilettanten" von "Pink Flag", die als primitive Punk-Splitter mit krachenden Rhythmen und sägenden Gitarren begannen, sind nun zu architektonischen Meistern gereift, die eine klangliche Welt entworfen haben, in der jedes Element gezielt platziert ist. Mit "154" heben sich Wire endgültig von ihren Anfängen und der Punk-Szene ab und schaffen ein kaleidoskopisches Werk voller Widersprüche und Dissonanzen, das die Ästhetik des Post Punk neu definiert. 

Der Opener 'I Should Have Known Better' begrüßt einen nicht mit der erwarteten punkigen Rohheit, sondern mit flächigen, ambienhaften Keyboard-Sounds und Colin Newmans vokaler Melancholie, die durch eine gefühlte Glaswand dringt. Dieser Song eröffnet eine kalte, zerbrechliche Welt, die wie aus Stahl und Glas geschmiedet scheint, und doch ist sie so unaufhaltsam eindringlich. Die kantigen Gitarrenriffs, die früher so charakteristisch für Wire waren, haben sich hier in hypnotische, mechanische Strukturen verwandelt, die durch Synthesizer ergänzt werden und eine leblose, futuristische Ästhetik erzeugen. Und gleich danach schmettert 'Two People In A Room' wie ein vertrauter Ankerpunkt zurück zur Unmittelbarkeit, nur um einen umso deutlicher in die entseelte, künstlich wirkende Soundlandschaft zurückzuwerfen, die dem Album seine einzigartige Stimmung verleiht.

Das Album lebt von Kontrasten und extremen Facetten. Die Pop-Anklänge sind messerscharf und minimalistisch. Songs wie 'The 15th' erscheinen als perfekte Fusion von Post Punk und düsterem Pop, die mit frostiger Mechanik und surrealer Distanz ein futuristisches Gefühl erzeugen. "154" entfaltet sich in seltsamer Kühle, die dennoch emotional überwältigt, wie eine Post Punk-Oper, in der die Gitarren niemals in den Vordergrund drängen, sondern atmosphärisch im Hintergrund pulsieren und treiben. Die einst unverkennbar schroffen Riffs der Band wurden hier durch flächige, synkopierte Sounds ersetzt, die fast unmerklich eine Spannung erzeugen, die Songs wie 'A Touching Display' und 'A Mutual Friend' zu hypnotischen Klangexperimenten verdichtet. In diesen Songs scheinen Wire eine Vision von Anti-Utopie zu entfalten: eine bedrückende Welt, die in all ihrer Kühle niemals aufhört, eine dunkle, beinahe schön-schaurige Poesie auszustrahlen.

Man merkt, dass die Band sich klanglich nicht mehr mit spielerischen, spontanen Ideen abgibt, alles an "154" wirkt durchdacht und kalkuliert, wie ein sorgfältig geplantes, wenn auch beängstigendes Monument. Elektronische und akustische Elemente bilden eine perfekte Symbiose, die den Fluss der Platte zu keinem Zeitpunkt stört. "154" entfaltet seine Klanglandschaften wie eine bleierne, stille Apokalypse. Die Atmosphäre des Albums ist so dicht und allumfassend, dass sie physisch spürbar wird. "154" klingt, als wäre es in einem Raum erschaffen worden, dessen Wände aus kaltem, unnachgiebigem Stahl bestehen, in dem die Zeit stillsteht und nur die Musik selbst als Lebenszeichen existiert. Diese sterile, kalte Eleganz verleiht dem Album seine Zeitlosigkeit und macht es auf monumentale Weise bemerkenswert.

Die düstere Krönung des Albums ist 'A Touching Display'. In diesem fast siebenminütigen Epos steigert sich die Band in eine Vertonung der dunklen Zukunftsvisionen, die dem Album innewohnen. Die hypnotische Wiederholung und der dröhnende, fast erdrückende Sound erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, die einen Blick in eine apokalyptische, entfremdete Welt eröffnet. Die Idee einer "berührenden Inszenierung" verwandelt sich in eine verzerrte Zukunftsvision, die tief in das Unbehagen der Post Punk-Ära greift und gleichzeitig einen Vorgriff auf die kommende Gothic-Ästhetik darstellt.
Wer die frühen Jahre der Post Punk-Bewegung verstehen möchte, findet in "154" ein unverzichtbares Kapitel. Es zeigt eine Band, die entschlossen ist, ihre Grenzen bis zum Äußersten auszuloten, und dabei ein Werk schafft, das in seiner visionären Kraft selbst heute noch erschüttert und fasziniert. 

"154" fängt Wires evolutionäre Reise zur künstlerischen Reife ein und zählt somit zu den wichtigsten Platten des Post Punk. Es ist sperrig, geschickt, einnehmend und unbarmherzig in seiner Detailverliebtheit. Hier sind Punk und Post Punk nicht nur musikalische Richtungen, sondern ein Raum, ein Ort, an dem Schönheit und Kälte aufeinandertreffen und eine neue, unbekannte Schwere erzeugen. Mit "154" haben Wire ein Album geschaffen, das die Bewegung nicht nur weiterentwickelte, sondern das Genre in eine neue, bisher unentdeckte Dimension führte.

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