Genesis, die Prog-Rock-Götter der 70er Jahre, präsentierten mit ihrem zweiten Live-Album einen beeindruckenden Abschluss dieser Phase, bevor sich die Band der Popmusik zuwandte. Nach dem phänomenalen Konzeptalbum „The Lamb Lies Down On Broadway“ verließ Peter Gabriel die Band, und Phil Collins übernahm seinen Part als Sänger. Auch wenn Collins natürlich niemals an die Genialität des Meisters Gabriel herankommt, erwies er sich meiner Meinung nach als akzeptabler Ersatz. Es gelang ihm auf zwei weiteren Alben – „A Trick of the Tail“ und „Wind & Wuthering“ – das Genesis-Flair einigermaßen beizubehalten.
Bereits auf diesen beiden Alben merkt man jedoch Collins’ wachsenden Einfluss auf die Gestaltung der Musik. Popige Elemente schleichen sich vermehrt in den Sound ein. Auf diesem Live-Dokument spielen Genesis zum letzten Mal ihren großartigen Prog, bevor die Band zu einem millionenschweren Megaseller der Popmusik wurde – eine wohlbekannte Geschichte.
Beeindruckend ist für die damalige Zeit der absolut druckvolle und klare Sound der Aufnahme. Collins' Stimme klingt zwar ein wenig dünn, und Gitarrengott Steve Hackett kommt etwas zu leise rüber, aber das Gesamtbild stimmt: Die Songs werden absolut perfekt dargeboten. Die Band spielt perfekt zusammen – alles harmoniert. Collins interpretiert die Gabriel-Songs auf seine eigene Weise, was den besonderen Reiz dieses Live-Albums ausmacht. Ich muss zugeben, dass Collins hier seine Sache absolut perfekt macht. Natürlich hätte ich solch eine Aufnahme gerne mit Gabriel gehört, denn das erste Live-Album ist zwar nett, aber doch eher belanglos.
„Seconds Out“ ist meiner Meinung nach eines der ganz großen Live-Alben aller Zeiten, ein perfektes Zeitdokument von einer Band, die hier zu absoluter Höchstform aufläuft! Sicherlich, die gekürzte Version von „The Musical Box“ mit ihren 3 Minuten ist eine Beleidigung sondergleichen. Doch die Version von „Supper’s Ready“ überzeugt und erstrahlt unter Collins' Führung in einem völlig neuen Gewand.
Ebenso genial ist „Cinema Show“, leider der einzige Song mit Bill Bruford am Schlagzeug, der ein geniales Drum-Battle zwischen Bruford und Collins beinhaltet. Das muss man gehört haben! Hier treffen die beiden besten Rock-Drummer der 70er Jahre aufeinander. Wer von ihnen der bessere ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich halte Bruford für noch einen Tick genialer, aber das schwankt bei mir täglich, denn Collins galt ja bekanntlich einmal als der Beste seiner Zeit! Chester Thompson kann gegen einen Bruford natürlich nicht anstinken, macht seine Sache aber ebenfalls hervorragend.
Steve Hackett hätte sicherlich einen besseren Abgang verdient als dieses Album, auf dem seine Parts oft untergehen. Doch wenn sie durchschimmern, wird klar, was Genesis zum großen Teil ausgemacht hat: Hacketts genialer Stil, der oft zurückhaltend ist, aber wenn es mal lauter wird, eine Energie und Atmosphäre erzeugt, die nur wenige erreichen. Das letzte Bindeglied der klassischen Genesis stieg kurz nach der Tour aus und überließ Collins den großen Spielraum für seine neuen musikalischen Vorstellungen, die Genesis weltberühmt machten.
Mit diesem Live-Album endet die kreativste und für die meisten Fans beste Ära von Genesis – eine Band, die in den 70ern wie keine andere für Prog-Rock stand und der Musikwelt traumhaft schöne Prog-Alben hinterließ, die heute noch als Maßstab dienen. Auch für mich endet das Kapitel Genesis mit diesem Album, denn mit der – zugegebenermaßen – klasse Popmusik der Collins-Ära kann ich nichts anfangen. Für Fans dieser Ära wird es sicherlich andersherum genauso sein.
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