1970 war so ein unglaublich fantastisches Musikjahr. Eines der großartigsten Werke aus diesem Jahr stammt meiner Meinung nach von VAN DER GRAAF GENERATOR, der Band um den charismatischen Sänger und Kopf Peter Hammill. Peter Hammill ist, wenn man so will, der beeindruckendere Peter Gabriel – ein dunkler Poet mit einer viel besseren Stimme und einem ausgeprägteren Sinn für tieferes Songwriting.
Das tut hier aber nichts zur Sache. Beide Künstler verehre ich hingebungsvoll, würde mich aber in den 70er Jahren, wenn es darauf ankommt, immer für VDGG und Peter Hammill entscheiden. GENESIS haben zwar nicht so eine „extrem“ musikalisch schwankende Kurve in ihrer Diskographie, dafür haben GENESIS aber auch niemals solche weggesperrten Ungeheuer aus der seelischen Tiefsee freigesetzt. VDGG waren da viel näher am geistigen Niveau von KING CRIMSON, anstatt am bunten Zauber von YES oder GENESIS.
Eröffnet wird „H to He Who Am the Only One“ von einem der genialsten Progressive-Rock-Songs, die bis heute je aufgenommen wurden, und gehört zu den magischen Momenten neben ’Starless’, ’Lady Fantasy’ oder ’Supper's Ready’. ’Killer’ donnert von der ersten Sekunde an ungezügelt wie ein unumgänglicher Sturm auf einen herein, angetrieben durch den extrem pumpenden Bass und natürlich durch das Meister-Saxophon von Großkünstler David Jackson, der dieses Instrument auf eine völlig einzigartige und ungewöhnliche Weise spielt.
Herausstechendes Merkmal im VDGG-Sound ist jedoch die majestätische, ausdrucksstarke, druckvolle und unheimlich charismatische Stimme von Peter Hammill und sein unwirkliches Talent, Songs zu schreiben sowie durchweg großartige Texte zu verfassen. Peter Hammill ist und bleibt der fantastischste Sänger dieser Ära. Kein anderer Sänger reicht an seine ungemein nachdenklichen, extrem düsteren, poetischen und eindringlichen Texte heran, die er nicht nur stimmig vertont hat, sondern auch beängstigend mit Leben füllt.
Daneben sorgt David Jacksons abartiger Höllenritt auf dem Saxophon einfach nur für staunende Momente, womit man sogar Leute begeistern kann, die diesem Instrument normalerweise nichts abgewinnen können. In ’Killer’ übernimmt er mit seinem Blasinstrument quasi den Part der E-Gitarre, die es bekanntermaßen so gut wie gar nicht im einzigartigen Sound von VDGG gibt, inklusive eines Psychosolos der ungezügelten Lust. Es ist einfach nur der blanke Wahnsinn, was Jackson in dem Song abzieht, sich quasi beim Spielen dreimal um die eigene Achse dreht, sich in jede Richtung überschlägt und sein Saxophon hemmungslos vergewaltigt.
Guy Evans hält mit seinem anspruchsvollen, aber sehr songdienlichen Schlagzeugspiel alles zusammen und lässt den beiden Stars Hammill und Jackson genug Freiraum. Vertonte Schizophrenie! Wie Hammill die Wörter betont und in die Höhe treibt: „So you live in the bottom of the sea, and you kill all that come NEEEAAAAARRR YOOOOOOUUUUUUUHHHHHHOOOUUUUUU…”. Oder wenn er dann in seiner durchdringenden Art ein paar Oktaven höher singt: „And you crave companionship and someone to call your own; because for the whole of your life, You've been living alone“.
Festgehaltene Gänsehautmomente und Sternstunden des Progressive Rocks. Was für eine enorme Stimme das ist! Dieses kurze Rhythmuserdbeben dazwischen und dann dieser sich öffnende Erdspalt, eingeleitet von den stakkatoartigen Zeilen: „Death in the sea, death in the sea, Somebody please come and help me, Come and help me. Fishes can't fly, fishes can't fly, Fishes can't and neither can I, neither can I.“ Danach herrscht absolute grausame Dunkelheit, ein tosender Sturm, kurze aufblinkende Lichter, bevor alles wieder in sich zusammenstürzt und der Fürst mit seinem Blasinstrument aus der Hölle aufsteigt. Unbeschreiblich, was da alles abgeht in dem Song und welche mächtige Kraft entwickelt wird – und das alles ohne E-Gitarre(n)! Pure Intensität!
Mit ’House with No Door’ folgt ein zutiefst trauriger, aber wunderschöner, ruhiger Song mit einer überwältigenden Gesangsdarbietung von Hammill, der hier unfassbares Gefühl in seiner Stimme trägt. Wie großartig emotional kann man bitte singen und betonen? Begleitet von Hammills Pianoklängen, pumpenden Bassläufen und Evans' beruhigenden Rhythmen am Schlagzeug, entfaltet sich ein wunderschöner Song – ganz ohne Kitsch.
Nach diesem Ruhepol des Albums folgt mit ’The Emperor in His War Room’ wieder ein sehr düsterer Song, der alles beinhaltet, was VDGG ausmacht. Wieder ist es dieser unglaubliche Sänger, der mit seiner Stimme alles mitreißt, und die beunruhigend kalte Atmosphäre, die für den frühen VDGG-Sound so typisch ist. Schon fast sakral betörend, erzeugt der Song eine sehr intime Stimmung.
Das folgende, leicht avantgardistische ’Lost’ variiert dabei immer zwischen anmutigen, ruhigen Momenten und kurzen Ausflügen in die Psychose, bevor mit ’The Pioneers over C’ das Album noch mal mit einem weiteren Höhepunkt ausklingt, wie es begonnen hat.
Es gibt auf „H to He Who Am the Only One“ keinen einzigen Schwachpunkt. Jede Note ist grandios ausgearbeitet, die Gesangslinien sind meisterhaft inszeniert, jedes Break ist stimmig, und die Rhythmuswechsel sitzen perfekt – genau wie die faszinierenden und passenden Texte von Hammill. Und obwohl dieses Album eigentlich schon perfekt war, erschien 2005 eine remasterte Edition in einem noch druckvolleren, donnernden und voluminöseren Sound, wodurch dieses Werk noch weiter aufgewertet wurde. Zudem gibt es mit ’Squid 1 / Squid 2 / Octopus’ einen unveröffentlichten Bonustrack (neben einer alternativen Version von ’The Emperor in His War Room’), der nebenbei zu den besten VDGG-Kompositionen gehört und eine unerwartet wilde Band präsentiert. Hier drehen alle Akteure so richtig auf – besonders der eher ruhige Evans am Schlagzeug und der nicht wiederzuerkennende, unkontrollierte Hammill – und machen das Album endgültig zu dem Meisterwerk, das es ist.
Ein leider einsames, aber wünschenswertes Beispiel für eine gelungene und nachvollziehbare Neuauflage eines Albums. In seiner Gesamtheit ist „H to He Who Am the Only One“ für mich vielleicht das beste und ergreifendste Werk aus diesem Genre, das sich nur noch mit dem noch düsteren, aber komplexeren „Pawn Hearts“ streiten kann – ebenfalls aus dem Hause und dem Hirn von Peter Hammill.
Ich weiß gar nicht, wie oft ich dieses Werk und den Namen Peter Hammill hier schon gepusht habe, aber für alle ernsthaften Prog-Fans hier im Forum ist „H to He Who Am the Only One“ ohne Ausrede ein unumgängliches Pflichtalbum. Für mich ist es in seinen stärksten Momenten mit das Beste, was es an Musik gibt.
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