"Lizard" ist so ein typisches „lieben oder hassen“-Album, ein wirklich fieser Psycho-Abgesang auf konventionelle Songstrukturen und eingängige Melodien. Ein wildes Biest mit Tollwut im Endstadium – gefährlich bekloppt und dem Hörer gegenüber komplett verschlossen.
Mein Einstieg in das King Crimson-Universum erfolgte durch "Red" und "In The Court Of The Crimson King". Später kamen dann noch "Larks' Tongues In Aspic" und "Starless And Bible Black" hinzu, bevor ich mich erstmal mit neuerem Material beschäftigte, wie dem härteren "The ConstruKction of Light", dem steril-kalten und standardssetzenden Produktions-Overkill "The Power To Believe" oder dem göttlichen Live-Knaller "The Nightwatch", das zwar 1997 veröffentlicht wurde, aber Aufnahmen aus den 70ern enthielt.
Irgendwann habe ich mich dann an das viel diskutierte "Lizard" herangetraut und wurde komischerweise sofort gefangen genommen. Dabei war mir beim Erstkontakt ganz unwohl. Auf der einen Seite war ich total überwältigt von dieser völlig unwirklichen, kranken Atmosphäre, die besonders in den beiden überkaputten Songs 'Indoor Games' und dem fiesen Migräne-Soundtrack 'Happy Family' für ein komisches Gefühl sorgt. Auf der anderen Seite stellte ich mir aber auch die Frage: Was will mir Robert Fripp damit eigentlich sagen?
Zum Glück wird "Lizard" von einem der besten 70er-Crimson-Songs eröffnet, sonst hätte sich die Beziehung zwischen mir und "Lizard" wahrscheinlich hoffnungslos in eine Fehldiagnose entwickelt. Und das würde ich heute echt bereuen, denn "Lizard" gehört mittlerweile zu meinen Lieblingsalben, wenn ich mal komplett in mich gehen möchte und die Denke abstelle.
'Cirkus', der besagte Opener in diesen Wahnsinn, baut sich schon fast ruhig und schön auf, besitzt aber schon im Hintergrund den lauernden Sinnessturm, der sich mit einem knallharten Mellotron (übrigens ein wichtiges Markenzeichen der frühen King Crimson) rasiermesserscharf in den herrlich warmen Sound schneidet, sodass die hässliche Fratze nach und nach an die Oberfläche dringt. Für mich ist 'Cirkus' eine der grandiosesten, einfallsreichsten, ehrfürchtigsten, wahnsinnigsten und zugleich unglaublich harmonisch-disharmonischsten Kompositionen, die man auf einem CRIMSON-Album finden kann.
Dieses umwerfend düstere, perlende Piano, Gordon Haskells eindringlicher Gesang mit seinen beängstigenden Ausbrüchen, der tolle Text, Fripps Gott-Akkorde an der Gitarre (Gänsehaut!), Andy McCullochs wirres Schlagzeugspiel (welches man in diesem Song noch am ehesten als songorientiert bezeichnen kann), das überragend schwebende, leise Saxophon-Solo, dazu die untermalenden Synthieklänge, dieser überperfekte Perfektionismus der Laut-Leise-Dynamik und der hämisch verspottende Abschluss des Songs gehören für mich musikalisch zu den ganz großen Momenten in meinem Lebenslauf als Musik-Fan. So wurde ich dann zum Glück doch fast schmerzfrei, für KING CRIMSON-Verhältnisse, behutsam in den Zauber von 'Lizard' hineingezogen.
Das abschließende Epos 'Lizard' stellt mit seinen fast 25 Minuten die ambitionierteste Komposition im Schaffen von Robert Fripp und KING CRIMSON dar. Bombastisch, munter, fröhlich – Jon Anderson als Gastsänger in der Einführung, eine Trompete, eine Oboe, ein boleroartiger Moment für die Ewigkeit. Clint Eastwood winkt einem aus der Ferne in seinem verstaubten Poncho zu, unmenschliche Himmelsmelodien, Monotonie, Jazz, Blues, Saxophon, Flöte, Klavier, wirres Schlagzeug, Posaunen, mellotrongeschwängerte Tristesse und frippeske ausufernde Arrangements mit knallharten Umbrüchen.
Viele sagen ja, dass das Titelstück des ebenfalls meisterhaft komponierten "Close to the Edge" der viel zugänglicheren und weitaus weniger anstrengenderen YES musikwissenschaftliche Größe besitzt – gegen 'Lizard' zerbröselt 'Close to the Edge' nicht nur als Einzelstück, sondern auch als Album. Es kommt nicht mal ansatzweise an die Vielfalt, die beachtliche „Bösartigkeit“ und die kompositorische Größe von 'Lizard' heran.
Vier Jahre später hat Robert Fripp dann mit 'Starless' ein ähnliches, aber deutlich kürzeres, unkomplizierteres und kompakteres Meisterwerk komponiert, das nicht nur aus meiner Sicht das Juwel im Schaffen von KING CRIMSON ist, sondern in meiner Welt zu den schönsten Momenten der gesamten Rockgeschichte gehört und wohl meine Grabeshymne wird.
"Lizard" klingt für mich wie ein vorbeifahrender Karneval aus einer Alptraumwelt, bestückt mit dämonischen Fratzen, entstellten Tierwesen, bösartigen Clowns, gruseligen Babys, entflohenen Psychopathen, garstigen Kobolden und Frauen mit echten Vollbärten. Alles verpackt in einem mehr als passenden surrealen Cover-Artwork.
Übrigens: Jede Wette, dass es TOOL niemals in dieser Art geben würde, wenn Robert Fripp kein einflussreicher Musiker geworden wäre.
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