Regie: Rémy Belvaux, André Bonzel, Benoît Poelvoorde, 1992
Da ich diesen Film immer nenne, wenn es um gute, eigenwillige und besondere Filme geht, habe ich mir gedacht, dass ich jetzt einfach mal meinen (heimlichen) Lieblingsfilm genauer auseinandernehme und hier vorstelle.
Um was geht es?
In "Man Bites Dog" wird ein Berufskiller tagelang von einem Kamerateam begleitet, wodurch der Eindruck entsteht, dass es sich um eine Dokumentation handelt. Zwischen dem Killer Benoît, der grandios von Benoît Poelvoorde gespielt wird, und dem Reporterteam entsteht mit der Zeit eine Art Freundschaft, die so weit geht, dass die Filmemacher sogar aktiv Benoît unterstützen. Das ist die grobe Rahmenhandlung dieser einzigartigen Mockumentary. Der Film gilt als einer der "billigsten" Filme Belgiens, was man ihm aber zu keiner Sekunde ansieht – und das selbst über 20 Jahre später. Das liegt zum einen daran, dass der Film in Schwarz-Weiß gedreht wurde, grobkörnig und gefühllos, und zum anderen daran, dass sich der Film zu 95 % mit dem Killer beschäftigt und eigentlich fast immer Benoît im Bild ist. Das hätte natürlich extrem in die Hose gehen können, aber wie Benoît den Film trägt, ist in dieser Weise unerreicht. "Benoît ist unser europäischer De Niro", so André Bonzel, einer der drei Regisseure des Films. Kann man mal so im Raum stehen lassen.
Der Film schockiert, ist brutal offen, kennt kein wirkliches Tabu, ist oft geschmacklos, unangenehm, faszinierend und bitterböse. Ja, der Film ist richtig böse und fies. Aber: "Man Bites Dog" ist auch wahnsinnig fesselnd und unterhaltsam. Er ist lustig und erstickt förmlich an seinem zynischen Schwarzhumor. Er lässt einen nicht mehr los, nachdem man den ersten Mord, der sofort in den ersten Sekunden am Filmanfang stattfindet (um gleich zu wissen, womit man es hier zu tun hat), überlebt hat. Eine Minute später erklärt Benoît, vor einer Leiche kniend, mathematisch, wie man eine Leiche ordentlich mit Gewichten ausstattet, um sie im Wasser zu versenken. Dabei geht er tiefer ins Detail und erklärt den Unterschied zwischen Erwachsenen, Kindern (sie sind ja leichter) oder Zwergen. Bei älteren Menschen sind zudem die Knochen porös, das muss man alles beachten und berechnen. Allein dieser knapp 40-sekündige Dialog von Benoît hat mich damals komplett aus der Lederhose geschossen. Mit welcher Normalität er ohne auch nur mit der Wimper zu zucken diesen Vortrag hält, ist nicht nur unglaublich bitterböse und komisch, sondern gleichzeitig auch eiskalt.
Benoît ist ein ständig plappernder Erzähler, der aber zu keiner Sekunde nervig wirkt. Man hört Benoît mit einer Faszination zu, ohne zu bemerken, dass da gerade eigentlich ganz schlimme Dinge erklärt werden und schreckliche Szenen ablaufen. Zudem ist der Killer kein Hollywood-Klischee, er ist kein künstlicher Charakter. Ein dünner, unauffälliger Mensch – bodenständig und natürlich. Hier werden keine Klischees bedient. Und das ist meiner Meinung nach auch die größte Stärke des Films. Diese Dialoge, Vorträge und Geschichten von Benoît, die er unzensiert in die Kamera rotzt. Dabei philosophiert er auch oft über alltägliche Dinge, spricht über Armut und Politik – in diesen Momenten ist er ein Mensch, keine Bestie.
Der Film hat unglaublich viele Szenen-Highlights und "ruhige" Dialogteile. Meine Lieblingsszene spielt in einer Kneipe, wo Benoît am Tisch einen Mist zusammenredet, der aber wie Poesie herüberkommt. Oder die Szene, in der Benoît einen Farbigen ermordet ("Ein schwarzer Nachtwächter. Das ist nicht nur hinterhältig, das ist ekelhaft. Nur damit man ihn nicht sieht.") und gleich darauf das Kamerateam auffordert, gemeinsam DAS Geheimnis zu lüften. Dieser Kontrast zwischen knallharten Bildern und urkomischen Kommentaren macht den Film nicht nur ungemein interessant, sondern man ertappt sich selbst bei seinem Voyeurismus. Und die knallharten Szenen sind dann auch wirklich beängstigend schonungslos.
Es gibt Szenen, da möchte man den Film eigentlich nicht empfehlen. Ein Kindermord und der krass verstörende Wendepunkt im Film: eine (Gruppen-)Vergewaltigung, die den Zuschauer direkt ins Wachkoma schickt. Wer sich bei "Irreversibel" übergeben hat, wird hier seinen Tod finden. Allerdings würde man dann auch den für mich großartigsten Film der 90er Jahre verpassen. Es wäre einfach unfair, den Film auf diese (wirklich wichtige) Szene zu reduzieren, denn erst dadurch verliert man diese unwirklich hohe Sympathie für die Hauptfigur. Man erkennt plötzlich brutal, mit wem man es hier zu tun hat.
Ich weiß nicht, wie oft ich den Film schon gesehen und Freunden gezeigt habe (die bisher immer begeistert waren) und immer wieder über groteske Situationen gelacht habe, wo es eigentlich nichts zu lachen gibt. Ein Film, der die angeblich fiesen Filme von Haneke und von Trier in den Schatten stellt und sie wie romantische Komödien erscheinen lässt.
Quentin Tarantino vergöttert diesen Film, und es ist einer der wenigen Filme, die man als wirklichen Kult bezeichnen kann – eine einsame Perle an Ideenreichtum, Kreativität und monströs guten Dialogen. Der Film wurde zum Glück letztes Jahr ungeschnitten über Arthaus/StudioCanal auf DVD veröffentlicht und enthält zudem ein kleines Begleitbuch mit Hintergrundinformationen und einem Interview. Heute ja eine Seltenheit. Die Synchronisation ist übrigens sehr gelungen.
Man Bites Dog – der einzige Film, den ich auch ohne Pistole an der Schläfe nennen würde, wenn es heißt: 1 Film, den man gesehen haben muss!
Freitag, 7. Februar 2014
C'est arrivé près de chez vous (Man Bites Dog)
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