1997 hatte ich meine ersten ernstzunehmenden Berührungen mit Black Metal. Das für mich im Nachhinein vielleicht wichtigste und prägendste Album, welches mir den Black Metal ins Haus holte, kam nicht aus Norwegen, sondern aus Deutschland.
Damals besorgte ich mir CDs und Shirts noch über Papier-Mailorder per Post oder per Telefon. Napalm Records, Last Episode, Nuclear Blast, EMP, Invasion – die üblichen Verdächtigen aus dieser Zeit. Dort habe ich dann auch das Debüt "Hünengrab im Herbst" von NAGELFAR entdeckt. Die positiven Meinungen zum Album haben mich schließlich zum Kauf überredet, und diesen habe ich bis heute nicht bereut.
Der ausschlaggebende Punkt war aber, dass die Texte komplett auf Deutsch vorgetragen wurden – damals eine Seltenheit im Black Metal. Auch das Covermotiv war eher untypisch für das Genre.
Ich kann mich heute noch genau an diesen großen Moment erinnern, als das kurze Intro in den ersten Song 'Seelenland' überging. Ein Schrei, ein Blastbeat, ein druckvolles Riff und eine, meiner Meinung nach, immer noch einzigartige und unerwartete Produktion. Andy Classen hat hier unglaubliche Arbeit abgeliefert. Den Sound für das eher moderne Songwriting, welches sich klar von anderen Bands unterschied, hat er perfekt zugeschnitten und einen großen Klangkosmos mit Emotionen, Details, Ecken und Kanten sowie leichten elektronischen Experimenten geschaffen.
Natürlich bringt die beste Produktion nichts, wenn das Songwriting nicht stimmt. Und da kommt man automatisch auf den nächsten herausragenden Punkt, der für die Sonderstellung des Albums verantwortlich ist. NAGELFAR haben auf "Hünengrab im Herbst" fünf teuflische Songs verewigt, die sich, genau wie die Produktion, vom üblichen Schema der Black Metal-Kunst (bewusst?) abgrenzen. Wahnsinnig mutiges Songwriting, furchtloser Einsatz von Keyboards und Electronica, ungewöhnliches Drumming, druckvoller Gitarrensound, deutsche Texte und verständlicher Gesang gehen Hand in Hand mit geistesgestörtem Geschrei.
Zudem hat sich mit dem Titelsong eine gothische Ballade auf dem Album versteckt, die mir persönlich aber schon immer nicht so recht schmecken wollte. Eine weitere außergewöhnliche Kombination – so ein Stück in die Mitte des Albums zu platzieren. Man darf nicht vergessen, dass Keyboards, zu viele Melodien, klarer Gesang und ein druckvoller Sound 1997 mit Black Metal so viel zu tun hatten, wie meine Oma mit WACO JESUS.
Zurück zu 'Seelenland'. Der erste Song sorgte bereits in meinem damals zarten Alter für unfassbare Begeisterung und ließ meinen Penis abermals einen mächtigen Wachstumsschub erfahren. Wie ein Sturm donnert der Song los, prügelt und sägt, um dann in einen hymnischen Rhythmus zu wechseln. Immer wieder brechen NAGELFAR in rasende Parts aus und verbinden das alles so geschickt und stimmig, dass mir damals echt nichts mehr dazu einfiel. Auf jeden Sampler packte ich 'Seelenland', und alle wurden in meinem Bekanntenkreis mit diesem Song beglückt – ob sie wollten oder nicht.
Mit 'Schwanengesang' folgte dann ein episches Meisterwerk von knapp 15 Minuten Länge. Es beginnt mit ungewöhnlicher Rhythmik und experimentellen Synthesizern, stürmt danach in epischer Black Metal-Manier umher, um schließlich mit ruhigen, träumerischen und spacigen Passagen ein atmosphärisches Gesamtbild zu erschaffen. Auch hier sticht der grandiose und meiner Meinung nach meisterliche Gesang von Jander heraus. Auf "Hünengrab im Herbst" hat er eine der besten Gesangsleistungen auf einem Black Metal-Album abgeliefert. Wildes, chaotisches Geschrei, Sprechgesang, hymnenhafter Klargesang oder irres Psychogekeifer – Jander besitzt für Black Metal-Verhältnisse eine enorme Vielfältigkeit. Technisch natürlich alles sehr begrenzt, aber darauf kommt es hier gar nicht an. Es ist diese emotionale, extrem charismatische Stimme, die authentisch die gesamte Stimmung der Songs einfängt. Wie geschickt und unverschämt selbstverständlich NAGELFAR in 'Schwanengesang' mit Tempo, Rhythmik, klarem Gesang, ungewöhnlichen Keyboards und Stimmungen spielen, ist heute genauso spannend und faszinierend wie vor 19 Jahren.
Mit 'Hünengrab im Herbst' folgt dann die bereits erwähnte Ballade, die zwar super zur Stimmung des Albums passt, mir aber etwas zu abgedroschen klingt. Mutig ist dieses Stück allemal, und es wartet auch mit schönen Klanglandschaften auf. Vielleicht erinnert mich der Song zu sehr an den Kitsch von Bands wie LACRIMOSA, ohne dabei in diese Gefilde abzurutschen. Kein Ausfall, aber für mich schon damals eher ein nettes Beiwerk zum restlichen Album.
'Bildnis der Apokalypse' zeigt NAGELFAR wieder in experimentierfreudiger Laune. Verzerrter Gesang wechselt sich mit kraftvollem Geschrei ab. Auch hier zelebrieren NAGELFAR wieder eine Symbiose aus rasendem Black Metal, ungewöhnlichen Tempowechseln und Synthesizersounds.
Mit 'Srontgorrth (Das dritte Kapitel)' haben NAGELFAR vielleicht den besten Song ihrer Karriere auf dem Album verewigt. Epochal, rasend, stampfend, hymnisch, poetisch und besessen knüppeln und spielen sie sich in einen Rausch, über dem Janders gnadenloses Gekeife thront. Heute noch verschafft mir der majestätische Mittelteil eine Gänsehaut: "Der Frühling erstarb auf meinen Lippen. Doch da … im Frühnebel – ein Funke – heidnischer Schönheit."
Abschließend bewegen sich NAGELFAR in 'Der Flug des Raben (Ein Jammerschrei in traurig’ Nächten)' 15 Minuten lang durch alle Ebenen, die das Album bisher aufgezeigt hat.
“Hünengrab im Herbst“ ist heute, 19 Jahre später, sicher nicht mehr so faszinierend wie damals. Es gibt mittlerweile auch teilweise viel bessere deutsche Black Metal-Alben. Doch eines hat sich dieses Album bis heute bewahrt: Es ist und bleibt in seinem Ganzen einzigartig und unerreicht.
Die fantastische Produktion von Andy Classen ist bis heute nicht eine Sekunde gealtert. Der druckvolle Schlagzeugsound ist immer noch etwas ganz Besonderes. Die ungewöhnlichen Riffs und Rhythmen waren damals extrem mutig, und Janders Gesang ist und bleibt eine Meisterleistung im Black Metal. Dazu haben NAGELFAR wunderbare, im Gedächtnis bleibende Melodien auf "Hünengrab im Herbst" verewigt – ob nun mit Synthesizer, Gitarre, Samples oder Gesang.
Der für mich aber höchste Stellenwert, den dieses Album besitzt, ist, dass es ein Teil meiner Jugend ist. Für mich ist es ein ähnlich prägendes und sehr wichtiges Album wie "Into Glory Ride", "Dark Side Of The Moon" oder "Within The Realm Of A Dying Sun". Die Erinnerungen, die ich mit "Hünengrab im Herbst" verbinde, sind sowieso nicht in Worte auszudrücken.
Nach "Hünengrab im Herbst" war ich endgültig und hoffnungslos dem Black Metal verfallen.
Montag, 18. Juli 2016
Nagelfar - Hünengrab im Herbst
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