Dienstag, 20. Oktober 2015

Cocteau Twins - Treasure

Cocteau-Twins-Treasure

Glücklich flitze ich nackt über grüne Spinatwiesen, jage bunten Schmetterlingen hinterher, trinke aus dem Fruchtsaftfluss, der sich glitzernd zwischen Marzipanbäumen und Kokossträuchern durchschlängelt. Über mir ziehen pelzige Wolken aus weißer Sahne-Schokolade am Himmel, der aus dicken Heidelbeeren zu bestehen scheint. Die Sonne – eine übergroße Zitronen-Eiskugel – kitzelt meine Sinne.

Musik setzt ein, meine Füße berühren den Boden, der aus Falafel besteht, nur noch spärlich. Eine geisterhafte weibliche Hand greift nach mir, hebt mich in die Luft und lässt mich los. Ich falle. Doch plötzlich schwebe ich auf einer Welle von unaussprechlicher Schönheit und versinke in tiefen Schlaf.

Die Königin der Engel, Herrscherin über Elfenland, kreiert für mich über 40 Minuten eine Traumzauberwelt, die vor purer Schönheit zittert. Elizabeth Fraser, der wahrgewordene weibliche Stimmentraum, webt mit ihrer Himmelsstimme ein Netz der Herrlichkeit, der Unantastbarkeit und der zerbrechlichen Poesie, dass man nie wieder erwachen möchte.

Elizabeth Fraser? Noch nie gehört? Wer ist dieses grazile Wesen mit dieser ätherischen Stimme? Dabei hat jeder in seinem Leben diese Stimme bestimmt schon einmal gehört, wenn auch nur unbewusst. 'Teardrop', der Weltsong vom 98er-Weltalbum Mezzanine, das von MASSIVE ATTACK erschaffen wurde, baut sich um Frasers Wunderstimme auf. Tim Buckleys ‚Song to the Siren‘, interpretiert von Fraser, ist allen guten Leuten aus dem Film Lost Highway bekannt. Den noch besseren Leuten ist der Song bereits auf It'll End in Tears von THIS MORTAL COIL begegnet. Und diejenigen, die durch "Szenen-Dogmen" geschützt waren, haben bestimmt The Lord of the Rings-Filme gesehen, in denen Elizabeth Fraser den Soundtrack aufgewertet hat.

Aber hier geht es ja um COCTEAU TWINS, die mit den genannten Beispielen nichts gemeinsam haben. Treasure, das über das Qualitäts-Label 4AD veröffentlicht wurde, ist eines der ganz seltenen Alben, das zwar als Komplettkitsch bezeichnet werden könnte, aber in meiner Querexistenz einen perfekt musikalisch eingefangenen Sommerabend darstellt.

Oft als Dreampop bezeichnet, spielten die Zwillinge auf ihrem Debüt Garlands noch rauchigen Post-Punk. Doch mit ihrem dritten Werk Treasure hinterließen sie wirklich einen bis heute sehr gut versteckten Schatz der 80er. Und was für unglaublich schöne Songs sich auf dem Album um die Vorherrschaft streiten, ist schon sehr bemerkenswert. Dabei funktioniert die Musik als breite Fläche, wenig rhythmisch, selten ausufernd, angenehm reduziert. Doch durch die Stimme von Fraser, die nebenbei als einzige in einem Atemzug mit Lisa Gerrard genannt werden sollte, verwandelt sich das Album in einen paradiesischen Schwebeakt, der es wirklich vermag, sich für 40 betörend schöne Minuten komplett aus der Welt auszuschalten.

Und genau solche musikalischen Miniwunder sind die eigentlichen Schätze in meinem Musikozean, die mir an vielen Tagen wichtiger sind als meine persönliche Top Ten.

Wicked Lady - The Axeman Cometh

Wicked-Lady-The-Axeman-Cometh

WICKED LADY, oder THE WICKED LADY, haben es nie zu einer offiziellen Veröffentlichung geschafft. Gegründet von Hells Angels-Mitgliedern, hat diese wahrlich berüchtigte und fast unbekannte Band einige Prototypen rausgehauen, die in den 70ern unter dem Namen Hard Rock für Furore sorgen sollten und sogar einige Samen für den Doom Metal gepflanzt haben.

Auf diesem vorliegenden "Zusammenschnitt" befinden sich die meisten Aufnahmen der Band, die man zusammen mit der 2-Spur-Maschine (!) geklaut hatte, auf denen die Songs enthalten waren – das alles Anfang der 70er. Zum Glück, denn was hier für Lo-fi-Raketen enthalten sind, ist blutiger und dreckiger Höhlen-Rock aus der Vorzeit.

Für die damalige Zeit unglaublich barbarisch, wütend, fies, schmerzhaft und brutal echt. Mit jedem versifften Gitarrenriff von Martin Weaver schmeckt man rauchigen Whiskey, atmet Marihuana-Wolken ein, wird durch das stupide Drumming förmlich vergewaltigt und durch den mitten im Raum stehenden Bass regelrecht zerdrückt. Ein Zeitdokument – authentische Musik aus Fleisch und Knochen. Dieser Live-Sound ist ein einziger blutiger Brei, in dem Gerüche von Gruppensex, Schweiß, Alkohol, kaltem Rauch und Schimmel aufsteigen.

Zwischendurch gibt es immer wieder herrliche kleine Melodien, die aus dem Primaten-Chaos auszubrechen drohen – verträumte, psychedelische Gitarrenharmonien und ab und an sogar eine erschreckend gute Gesangslinie. Besonders bei den drei 10-Minuten-“Epen“ wie dem schleichenden und traumatisierten ‚Life and Death‘, dem überragenden Überhighlight ‚Out of the Dark‘ und dem total vernebelten psychedelischen Brachialstück ‚Living on the Edge‘ mit dem geilsten Gitarrenriff und Beckengeschepper.

Aber auch treibende und knackige Songs wie der fantastische Opener ‚Run the Night‘, das etwas seichtere ‚Rebel‘ und ‚Wicked Lady‘, ein lupenreiner Sex-Hit, bersten vor Energie. Eigentlich konnten WICKED LADY keine zwei Sekunden mit ihren Instrumenten umgehen, haben es aber trotzdem geschafft, dass dieses Werk für mich eines der geilsten Frühwerke des Hard Rocks ist und was weiß ich wie viele Größen beeinflusst hat.

Vangelis - Albedo 0.39

Vangelis-Albedo-0.39

VANGELIS, der Typ, der für RTL, die Deutschen und Henry Maske den (90er TV-)Einlauf (aus der unmusikalischen, medizinischen Sicht betrachtet) komponiert hat, hat bis heute seine Herkunft erfolgreich verborgen. Gut, man nimmt an, dass Papathanassiou in Griechenland auf die Welt kam. Ich jedoch bezweifle stark, dass dem so ist.

Überlegen wir doch mal genau: Musikgenie. Wunderkind. Visionär. Ausnahmekomponist. Melodievater. Grieche? Mensch? Da passt doch irgendwas nicht. Für einen (griechischen) Gott viel zu revolutionär und unbequem, für einen Menschen schlicht überqualifiziert.

VANGELIS muss quasi mit seinem nuklearen Weltraumorchester auf die Erde gerauscht sein. Wie sonst lässt es sich auch erklären, dass sein erstes Werk als Solo-Master mit dem prägenden Ausruf „Sex Power“ (1970) daherkommt und die drei Jahre später erschienene Einwanderungslizenz anspielend „Earth“ betitelt ist? Dazwischen hat VANGELIS zusammen mit APHRODITE'S CHILD 1971 den Psychedelic-Klassiker „666“ veröffentlicht. Einfach so, einen Meilenstein in dieses Genre gemeißelt. Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht gerade wenige englische Bands damals mit Neid nach Griechenland geschaut haben – besonders solche opulenten Pomp-Diven wie Keith Emerson und Rick Wakeman.

So richtig hat VANGELIS aber erst 1975 mit dem ersten großen Meisterwerk, das er auf der Erde komponiert hat, seine universale interstellare Macht entfaltet. „Heaven and Hell“, ein Konzeptwerk, bietet nicht nur fantasievolle (die Markenbezeichnung für die Musik von VANGELIS) Melodien, Arrangements, Strukturen und Klänge, sondern auch die erste „Zusammenarbeit“ mit Jon Anderson, bekannt als das sentimentale Engelchen von YES. Diese Zusammenarbeit führte Jahre später zu einigen Knaller-Hits wie ‚I'll Find My Way Home‘, ‚The Friends of Mr Cairo‘ oder ‚I Hear You Now‘.

Natürlich hat VANGELIS eine riesige Auswahl an unterschiedlichen Werken in seinem Lebenswerk, von denen auch einige unter zu viel Menschlichkeit gelitten haben. Aber wenn man sich wirklich mal für ein VANGELIS-Werk entscheiden sollte, dann sollte es „Albedo 0.39“ sein. Aus meiner Sicht ist das das Herz seines Schaffens – ein musikalisches Gegenstück zu Kubricks „2001“ und nicht weniger als eine tragende Säule der elektronischen Musik.

Vergesst den späteren pompösen (aber nicht unbedingt schlechteren) VANGELIS und denkt an die unendlichen Weiten, die Kälte, das Blau/Schwarz, die Geheimnisse, die Ängste und die Faszination des Weltraums. Stellt euch vor, ihr surft wie Lt. Doolittle im Film „Dark Star“ in die Atmosphäre und verschmelzt mit der Musik. „Albedo 0.39“, mit den beiden Kernstücken ‚Nucleogenesis Pt. 1‘ und ‚Nucleogenesis Pt. 2‘ – musikalische Kernschmelze –, ist wie nackter Urlaub im Weltraum. Es ist immer noch eines der ganz wenigen Musikwerke, die es schaffen, dass man sich in diesem endlosen Raum zurechtfindet und eigentlich auch nie wieder zurückkehren möchte.

Neben seinem Pflicht-Soundtrack zu „Blade Runner“ hat VANGELIS mit „1492: Conquest of Paradise“ wohl sein berühmtestes Werk erschaffen. Viel geiler und mit Worten gar nicht auszudrücken ist aber sein größter Hit, der um die Welt ging: das Titelthema zu „Chariots of Fire“. Eine Melodie, die wirklich jeder kennt. Eine Melodie, die ungelogen zu jedem Anlass passt. Ob ihr verkatert zu früh aus dem Bett steigt, stundenlang mit Verstopfungen auf dem Klo kämpft, das neueste Werk eurer Lieblingsband in den Händen haltet, an alte Zeiten zurückdenkt oder euch auf die Zukunft freut – es funktioniert immer. Es gibt wirklich keine bessere akustische Untermalung für das Leben!

Und für sein ungemein intimes Spätwerk „El Greco“ aus dem Jahr 1998 hat dieses Wesen in meinem Kopf alle Auszeichnungen, Preise (abseits von diesem belanglosen Oscar) und Ehrungen für Musik verdient, die es leider auf diesem Planeten nie erhalten wird. Jede Wette, in 200 Jahren steht garantiert in den digitalen Geschichtsbüchern: Die Musik von Beethoven, Tschaikowski, Mozart, Bach, Mussorgski, Strawinski, Vangelis…

A Torinói ló


Regie: Béla Tarr, 2011
Das beste Stück Film der letzten Jahre!

Béla Tarrs monotoner Weltuntergangsfilm, der 146 Minuten lang ein poetisch-raues Bild nach dem anderen zeigt. Im Sekundentakt präsentiert uns die Kamera unbeschreiblich kraftvolle Bilder von einem alten Mann und seiner Tochter, die auf einem alten Bauernhof, abgeschieden von der Zivilisation, leben. Das einzige Nutztier, ein Pferd, muss täglich gefüttert werden. Wasser muss aus einem nahe am Gehöft gelegenen Brunnen geholt werden. Die ganze Zeit weht ein starker Sturm, Blätter fliegen durch die Luft, genau wie der Staub und der Sand. Die langen Haare der Tochter wehen ängstlich durch den Wind. Es pfeift, Türen schlagen zu, Ketten rasseln.

Im uralten Steinhaus muss das Feuer entzündet werden, und die Tochter opfert sich für alle Aufgaben im Haus auf. Sie kocht, wäscht, kleidet den Vater ein (er hat einen tauben rechten Arm) und aus, und sitzt starr und regungslos vor dem Fenster. Vater und Tochter haben sich nichts zu sagen, sie wechseln so gut wie kein Wort miteinander. Warum das so ist, bleibt unbekannt. Die gemeinsame Mahlzeit, die aus jeweils einer Pellkartoffel besteht (der heimliche Star des Films), ist zugleich der Tageshöhepunkt. Hier wird hypnotisch mit der Kamera der komplette Vorgang gezeigt – vom Schälen der noch kochend heißen Kartoffel mit bloßen Händen bis zum hastigen Verspeisen mit der Hand. Diese Szene kommt sehr oft im Film vor, nämlich an jedem der gezeigten letzten sechs Tage. Immer wieder gibt es kleine neue Nuancen in dieser überwältigenden Szene zu entdecken. Dazu ertönt die monotone, depressive Musik, die sensible Kameraführung und der beängstigende Ton.

Béla Tarr hat einen Film von unbeschreiblicher Schönheit erschaffen, der so viele stimmungsvolle und malerische Bilder enthält, die ich zu den ergreifendsten und schönsten Momenten der Filmgeschichte zähle. Eine Bilderwucht in Schwarzweiß – trostlos, morbide, mit enormer Kraft und einem unbeschreiblichen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Allein der Weg zum Brunnen, wenn die Tochter mit zwei alten Metalleimern und in derben Stoffroben gekleidet Wasser holt, während der Wind ihre Haare verängstigt, Blätter und Staub herumwirbeln, das dröhnende Pfeifen des Sturms aufheult und man für kurze Momente tief in ihr Gesicht sieht, ist ein großartiger Filmmoment. Dann wird wieder die Tür verschlossen. Stille. Ein neuer Tag beginnt. Alles wiederholt sich. Man beobachtet Tochter und Vater, Pferd und Stall, Ofen und Küche, kahle Steinmauern. Jedes Bild, jede Szene ist von intensiver Traurigkeit und Schönheit umhüllt.

Mit den verstreichenden Tagen verändert sich auch das Pferd. Es will sich nicht mehr bewegen, ist scheinbar so verängstigt, dass es weder frisst noch trinkt. Die bevorstehende Dunkelheit wird sehr eindrucksvoll am Pferd gezeigt, ebenso wie die Verzweiflung und das Mitgefühl der Tochter, die (erfolglos) versucht, das Tier zu beruhigen und zu füttern. Diese Pferdeszenen gehören zu den druckvollsten Bildern des Films. Wenn der Vater auf das Pferd mit den Zügeln einprügelt und es anschreit, weil es sich nicht bewegt, und die Tochter dazwischengeht, um das Tier zu beruhigen, zeigt sich ihre stille Verzweiflung. Man könnte meinen, dass sie das Pferd lieber hat als ihren mürrischen Vater.

Auch die Szenen, in denen die Tochter ihren Vater ein- und auskleidet, sind bewegende Bilder für die Ewigkeit. Hier wird klar, dass der Vater auf seine Tochter angewiesen ist, während die Tochter sich gefühlskalt aufopfert. Gefühle spielen in dem Film kaum eine Rolle. Keine Liebe zwischen Tochter und Vater ist erkennbar; sie haben sich wahrscheinlich schon vor langer Zeit alles gesagt. Sie leben zusammen, aber jeder hat seine Aufgaben und kümmert sich nicht um den anderen. Wenn der Vater mit nur einem Arm Holz hackt oder die Tochter sich um die Wäsche, Nahrung und den Stall kümmert, während sie Wasser schleppt und der Vater die Leinen spannt oder seinem Handwerk nachgeht, herrscht stets eine unterkühlte Distanz zwischen ihnen.

Dann wieder die Mahlzeit: eine Pellkartoffel. Diesmal beobachtet die Kamera die Tochter. Bei ihr kann man noch einen Rest von Genuss erkennen, während der Vater nach hastigem Schlingen den Tisch nach wenigen Minuten wieder verlässt.

Der Film ist trostlos, erschlagend düster, gezeichnet von berauschenden Bildern voller Pracht und Schönheit. Er besitzt ein einzigartiges Setting, das ich so noch nie gesehen habe, und von dem eine sehr schwere, dichte Stimmung ausgeht. Ein atmosphärisch dichtes Meisterwerk, von einem Poeten der Regiekunst, von einem Bildmaler und mit einem beunruhigenden Sounddesign auf höchstem Niveau zelebriert.

Béla Tarr hat mit seinem letzten Film „A Torinói ló“ neue Maßstäbe gesetzt und eines der großartigsten Meisterwerke der Filmgeschichte abgeliefert. Und mit der letzten Einstellung des Films hat Béla Tarr sich für immer bei mir eingebrannt – mit diesem Meisterwerk.

Soft Machine - Third

Soft-Machine-Third

SOFT MACHINE, von denen ich bekannterweise ein Extrembewunderer und Big Daddy-Fanboy bin, galten nicht nur als der vielleicht anspruchsvollste Musikhaufen ihrer Zeit, sondern haben mit ihrem Drittwerk "Third" bereits 1970 das wohl komplexeste und unzugänglichste Werk des gesamten 70er Progressive Rocks auf die verlausten Hippies losgelassen. Angewidert und total überfordert, haben diese sich ihre Pillen zukünftig nur noch zu Mainstream-Prog wie YES, GENESIS, ELP oder JETHRO TULL eingeschmissen und weiterhin auf Busen in den Ferkel-Kommunen gespeichelt. Gab's also alles schon damals.

"Third" besteht aus vier Stücken (die an sich keine durchschnittlichen Songs sind, wie sie der Musikfaschist definieren würde), davon jedes knapp unter der 20-Minuten-Marke. Diese fordern nicht nur blinde Konzentration, sondern auch eine fast schon aussichtslose Willenskraft, um zu den wenigen Glücklichen zu gehören, die von sich behaupten können, dass "Third" mit seiner erschlagenden und folternden Methode so ziemlich alles in den Schatten stellt, was in der Hochzeit des Progressive Rocks als kompliziert, abgedreht, verschachtelt und schwierig galt.

Fast 45 Jahre später gehört "Third" immer noch zu den schwierigsten Brocken der Rockgeschichte und darf sich weiterhin mit Werken wie dem ein Jahr zuvor erschienenen Partykiller "Trout Mask Replica", SCOTT WALKERs vertonter Geisteskrankheit "The Drift" (immer noch das finsterste Werk der 00er Jahre), CANs Kulturbeitrag aus Deutschland "Tago Mago", der französischen Intimhaarentfernung mit Pinzette "Mekanïk Destruktïw Kommandöh", und meiner persönlichen unterwürfigen Hassliebe "Lizard" im grausamen, neurotischen Strudel der bizarren Schmerzen im Nervenzentrum des Hörers austoben und bleibende Schäden hinterlassen.

"Third" gehört zu den Werken, bei denen ich die ganze Zeit mit offenem Mund dasitze, und die auch für extremen "Mundkäse" sorgen. In seiner abschreckenden Art gehört dieses Album für mich zu den 10 besten Alben, die in den 70er Jahren veröffentlicht wurden. Es kann und darf auch nicht erklärt oder auseinandergenommen werden – musikalisch ist es sowieso so gut wie konkurrenzlos. Wer allerdings eine hohe Abneigung gegenüber Jazz hat, sollte einen großen Bogen um diese Band machen.

Robert Wyatt, Schlagzeugmeister und Sänger, ist übrigens eine der zentralen und wichtigsten Figuren des 70er Progressive Rocks und hat später so überragend gute Solo-Werke wie "Rock Bottom", "Dondestan" oder "Cuckooland" veröffentlicht.

Stanley Kubrick - oder wie ich lernte, Filme zu lieben

Wenn ich so richtig überlege, wie ich zum Filmfan geworden bin, was die ausschlaggebenden Momente waren, kann eigentlich nur der Kubrick schuldig sein.
Ich glaube, mein erster Kubrick-Film war "Spartacus", den ich als kleiner Steppke mit Muttern geschaut habe. Bis heute habe ich mir den Film auch nie wieder erneut angesehen, keine Ahnung warum eigentlich.
Die eigentliche Infizierung fand in den frühen 90er Jahren statt, als ich endlich meinen eigenen Videorekorder hatte und schön die "Mitternachtsfilme" aufnehmen konnte, bis ich auf "A Clockwork Orange" stieß. Malcolm McDowell in seiner nie wieder erreichten Rolle als Alexander DeLarge, hat mich total umgehauen. Die Sprache(!), diese perfekt einprägsamen Bilder, die Story, diese betörend geile Musik und der abgedrehte Soundtrack von Wendy Carlos, sowie das kühle Setting (da sind Bilder im Film, die möchte ich alle als Shirtaufdruck) und jede Menge Nachdenkstoff ist nach wie vor einzigartig.
A-Clockwork-Orange
"A Clockwork Orange" hat mich zudem mit seiner Thematik sofort vereinnahmt und zu keiner Sekunde kalt gelassen. Auch heute, knapp 45 Jahre nach der Veröffentlichung, ist Kubricks schonungslose Attacke und Gesellschaftskritik (jaja) immer noch aktueller, als so ziemlich jeder moderne Film, welcher sich auch nur annähernd mit dieser Thematik beschäftigt.

Es gibt so unglaublich viele Szenen im Film, wo ich auch heute noch Gänsehaut bekomme. Ganz vorne dabei, die gottgegebene Record-Store-Szene, in der Alex mit seinem Gehrock und seinem Stock zu Beethovens 9. in einen schrill glitzernden Plattenladen einmarschiert und dann listig zwei junge Mädels abschleppt. Oder die Eröffnungsszene mit der herausfahrenden Kamera in der Korova Milk Bar, dazu der donnernde Sound von Carlos und die Willkommensrede von Alex. Auch das Gespräch zwischen Alex (im Schlüpfer) und Mr. Deltoid auf dem Bett ist eine Traumkomposition. Einige Szenen, wie die Vergewaltigung und die "Folterungen" in der Anstalt, sind immer noch "grässlich" anzusehen. Gerade hier erkennt man, wie weit Kubrick mit seinen "Visionen" bereits war, denn die Bilder sind auch heute noch sehr unangenehm.
"A Clockwork Orange" gehört immer noch zu meinen Lieblingsfilmen, wird aber von "Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb" in meiner Kubrick-Liste nochmals übertroffen.
Barry-Lyndon
"Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb" spielt bei mir nicht nur ganz weit vorne mit, sondern ist immer noch einer der lustigsten und zugleich bitterernsten Filme, den ein Regisseur gedreht hat. Der großartige Peter Sellers spielt hier gleich drei Rollen, wobei ich mich bis heute nicht entscheiden kann, ob nun der leicht tollpatschige Mandrake, der eigentlich nur zuhörende und entscheidungsarme Präsident oder Dr. Strangelove höchstpersönlich der beste Charakter ist. Jeder Typ wird von Sellers komplett anders dargestellt und zeigt besonders in diesem Film, was für ein unglaublicher Schauspieler er war.
Nicht weniger genial (und der eigentliche Star und mein Liebling im Film) ist George C. Scott als General Buck Turgidson. Wie fantastisch dieser Charakter ist, total überzeichnet, bescheuert, lustig, überheblich und einfach unglaublich geil anzusehen. Alleine seine Gespräche mit dem Präsidenten (wenn es um die Russen geht) sind legendär. Ebenfalls richtig stark ist die Rolle des Major T. J. "King" Kong, ultra gelassen und cool gespielt von Slim Pickens.
"Strangelove" ist sicherlich nicht der technisch anspruchsvollste Film von Kubrick, besitzt aber für mich eine große Anziehungskraft, ein kurioses Ideenfeuerwerk, wahnsinnig witzige Dialoge und Szenen, großartige Schauspielkunst und ist nach wie vor filmhistorisch gesehen eine satirische Meisterleistung.
Die mittlere Schaffensphase von Kubrick gehört sowieso zu den größten Momenten der Filmgeschichte. Ob es nun die schiere Bildgewalt von "Barry Lyndon" ist, die groteske Geschichte von "Strangelove", die kompositorische Meisterleistung von "A Clockwork Orange" oder die Revolution "2001: A Space Odyssey" mit seinen ungelösten philosophischen Rätseln - Kubrick erschuf Standards für kommende Filmemacher, formte neue Sehgewohnheiten und perfektionierte Bildsprache und Technik.
2001-A-Space-Odyssey
Ein weiteres enorm wichtiges Stilmittel von Kubrick war die Musik. Es gibt wohl kaum einen anderen Regisseur, der seine Bilder so perfekt und passend mit Musik ausgestattet hat wie Kubrick. Musik wird in seinen Filmen nicht nur als Beiwerk benutzt, sondern ist bis auf das kleinste Detail akribisch abgestimmt.
Ich will jetzt auch gar nicht weiter ausholen und alles bis auf das kleinste Detail sezieren, dafür wäre bei weitem mehr angebracht als ein paar Sätze und mein Geschreibsel wird einem Kubrick sowieso nicht gerecht, sondern mich einfach nochmal vor diesem großen Filmgenie verbeugen und ihm dafür danken, dass er mir mit seinen Filmen manch unvergessliche Momente und massiv viele geniale Stunden geschenkt hat. Und ja, hier trifft das Wort Genie wirklich zu, denn Kubrick war unter den Filmemachern vielleicht DAS Paradebeispiel dafür.
Full-Metal-Jacket
Meine persönliche Kubrick-Liste sieht übrigens so aus:

01. Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb
02. A Clockwork Orange
03. 2001: A Space Odyssey

04. Barry Lyndon
05. Paths of Glory
06. Lolita
07. Full Metal Jacket
08. The Shining
09. The Killing
10. Eyes Wide Shut

PJ Harvey - Die großartig(st)e Künstlerin, die mich verändert hat

PJ-Harvey













PJ Harvey ist für mich die größte musikalische Entdeckung, seit ich den Heavy Metal für mich entdeckt habe. Irgendwann 2008 bin ich, wie auch immer, auf ein paar Songs von dem Album „White Chalk“ gestoßen. Mich hat selten Musik so schnell und ohne jegliche „Inkubationszeit“ gefangen genommen und mich auf eine unbeschreibliche Weise befreit.

„White Chalk“ war also mein offizieller Einstieg in das Schaffen dieser für mich persönlich großartigen Künstlerin, die es geschafft hat, dass ich wochenlang nichts anderes mehr gehört habe. Dabei ist „White Chalk“, rückblickend betrachtet, eigentlich das „falscheste“ Album, um PJ Harvey zu entdecken. Es ist ein extrem intimer, persönlicher, zerbrechlicher und klagender, düsterer Seelenstriptease von Polly Jean. Eigentlich schwer verdaulich und nur in bestimmter Stimmung zu genießen. Ich aber war sofort verliebt wie noch nie und habe dem Werk meine ewige Treue geschworen.

Da auf „White Chalk“ keine E-Gitarren enthalten sind und die Musik größtenteils komplett auf akustischen Instrumenten eingespielt wurde, untermalt von einem simplen Piano und Harveys extrem hoher Stimme – leidend, schreiend, klagend, wütend, traurig, schmerzlich und zurückhaltend schön – klingt das Album wie ein vertonter Trauerzug, der Soundtrack auf dem Sterbebett. Es sind solche berührenden Momente wie das bittersüße ‚Silence‘, das hoffnungslose ‚Dear Darkness‘, der verträumte Titelsong oder das elegische ‚The Mountain‘, die einen extrem bedrückenden Zauber heraufbeschwören.

Es folgten „Rid of Me“, „To Bring You My Love“ und „Stories from the City, Stories from the Sea“ – genau in dieser Reihenfolge. Wieder wurde ich von der diesmal ausufernden, obsessiven und dreckigen Musik um den Verstand gebracht. Ich war dieser vielfältigen Künstlerin hoffnungslos verfallen. Mit jedem weiteren Album erkannte ich, dass PJ Harvey ein musikalisches Chamäleon ist – unberechenbar und mit einer unverschämten Gabe ausgestattet, großartige Songs und so unterschiedliche Musik zu komponieren.

Dieser lustvolle Höhepunkt im Opener ‚Rid of Me‘, wenn sie schreit: „Lick my legs I’m on fire, lick my legs of desire", hat mich in eine zitternde Testosteronbombe verwandelt: brennende Erektion, gefolgt von einer schmerzvollen Ejakulation. Das kaputte ‚Legs‘ mit wildem Schlagzeug, rohem Gitarrenklang und einer obsessiven Harvey, das verstörende ‚Man-Size Sextet‘ mit diesen fieberhaften Streichern oder das pumpende und ungehobelt nach vorne polternde ‚50Ft Queenie‘ sind urgewaltige Anschläge auf die Sinne. Neben dem schon wunderbar lockeren Debüt „Dry“ von 1992 besitzt der Nachfolger „Rid of Me“ noch einen unglaublichen, realistischen Sound und eine wunderbare, dreckige Produktion vom Großmeister Steve Albini.

Mit „To Bring You My Love“ hatte ich dann das für viele als bestes Album geltende Werk erforscht. Musikalisch hat Harvey später noch bessere Werke geschrieben, aber was das originelle Songwriting angeht, ist dies aus meiner Sicht die abwechslungsreichste und künstlerisch wertvollste Platte, die sie aufgenommen hat. Düster, bedrohlich, verrückt, komplex, ausbrechend, belastend und faszinierend schön – wie die Wasserleiche auf dem Cover. Vielleicht ist „To Bring You My Love“ sogar mein Lieblingsalbum, jedenfalls streitet es sich mit „White Chalk“ und „Stories from the City, Stories from the Sea“ um das beste weibliche Album in meiner Sammlung.

Diese tiefe Gitarre, die nachtschwarzen Orgeln und dieser intensive, ausdrucksstarke und gnadenlose Gesang von Harvey im Opener ‚To Bring You My Love‘ – eindringlich bis ins Knochenmark und hocherotisch! Das folgende ‚Meet Ze Monsta‘ mit diesem Monster von einem Basssound und dieser verruchten, willigen Harvey, die hier wie eine drogenzerstörte Prostituierte wirkt – betörend geil! Dann dieser schleichende Horrorsong mit Gänsehautfaktor, ‚Working For The Man‘, in dem Harvey wie eine gestörte Monsterpuppe hinter der Tür im dunklen Zimmer lauert.

Auch der Sound hat sich wieder verändert. Weg von dem knallharten und rohen Garagen-Sound (der trotzdem einfach großartig ist!) auf dem Vorgänger, ist die Produktion auf „To Bring You My Love“ klarer, druckvoller und basslastiger. Trotzdem gibt es Lärm, mit einem spürbar nahen Instrumentensound, viel Feedback und Verzerrereffekte, die dem kühlen Grundton eine vertraute Wärme geben. Er betont die Songs perfekt, legt mehr Wert auf ein düsteres Klangbild und lässt es zum ersten Mal wie ein Bandalbum klingen, wo bei den beiden Vorgängern ganz klar Harvey im Vordergrund stand. Der Basssound ist leicht dominant und schwer drückend (übrigens ein grandioser Bassgitarrensound), die Gitarren eher lieblicher und zurückhaltend aggressiv, das Schlagzeug klingt weicher und raumausfüllender, und der Gesang von Harvey ist bis dato am perfektesten in Szene gesetzt.

Polly Jean lässt zum ersten Mal an der Oberfläche erkennen, was für eine Energie und Talent in dieser Künstlerin steckt. Ihre Gesangsleistung auf dem Album ist meisterhaft, abwechslungsreich und knisternd erotisch, dabei aber immer aggressiv und ungebändigt. Mitreißend, wie sie in ‚Down By The Water‘ die Textzeilen „Little fish, big fish swimming in the water / come back here, man, gimme my daughter“ eindringlich flüstert, dazu dieser knarzend-wummernde Bass. Mit ‚The Dancer‘ wird dieses stilistisch eindrucksvolle Werk schwebend beendet.

Mit „Stories from the City, Stories from the Sea“ brachte PJ Harvey im Jahr 2000 ihr bis heute zugänglichstes und songorientiertestes Werk hervor. Ein wahres Hit-Feuerwerk mit wunderschönen Melodien, Gesangslinien und einer wunderbar aufspielenden Band. Eröffnet von dem mächtigen ‚Big Exit‘, in dem Harvey stimmlich von der ersten Sekunde an begeistert, bekommt man zeitlose und einfach richtig gute Rocksongs wie ‚Good Fortune‘, ‚Kamikaze‘ oder ‚This Is Love‘ in das Hirn gepflanzt. Und mit ‚The Whores Hustle And The Hustlers Whore‘ wird sogar einer der besten Harvey-Songs rausgeschmissen. Daneben stehen die ruhigeren und leichteren Songs wie ‚A Place Called Home‘, ‚One Line‘, das einfühlsame ‚Beautiful Feeling‘, das Duett mit Thom Yorke von Radiohead oder das federleichte, beschwingliche ‚You Said Something‘.

Auch die etwas stiefmütterlich behandelten Alben wie „Is This Desire?“ und besonders das wieder sehr ruppige „Uh Huh Her“ mit seinen explosiven Handgranaten ‚Cat On The Wall‘, ‚The Life And Death Of Mr. Badmouth‘, ‚The Letter‘ und ‚Who The Fuck‘ sind destilliertes Liebeskonzentrat.

Das aktuelle Werk „Let England Shake“ ist bis heute Harveys ambitioniertestes Album, das irgendwie aus allen Alben etwas besitzt und trotzdem frisch und neu klingt. Für mich stellt sich die Frage nach dem besten Harvey-Werk eher selten, denn ich liebe jedes einzelne Album auf seine ganz besondere Weise.

Seit 2008 gibt es für mich nichts Schöneres, als mit dieser – nebenbei auch noch wunderschönen – Frau mit dem markanten Mund, der einprägsamen Nase und den tausend Gesichtern ins Bett zu gehen und mich komplett der großartigen Musik dieser Frau hinzugeben.

Polly Jean Harvey ist für mich schlicht und ergreifend die beste Rocksängerin aller Zeiten, eine unglaublich interessante und anziehende Musikerin und mein wahrgewordener Musiktraum.

Killing Joke - Killing Joke (2003)

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KILLING JOKE gehören bei mir schon seit Jahren zum gesunden Ton. Flächenschäden wie das düstere, ruppige und minimale Debüt von 1980, das tanzbare „Night Time“, wozu ich immer wieder gerne das Tanzbein schwinge, welches mit Hits praktisch zugestopft ist, oder die moderneren Sachen wie „Pandemonium“ oder die letzten beiden Alben, sind schon ziemlich die geilsten Krachalben, die man in Europa finden kann.

Ein Werk jedoch ist und bleibt das Nonplusultra in der Schaffensphase der Band. Alles, was ich an Rockmusik so bedingungslos liebe – Krach, Dreck, Lautstärke, Gewaltsongs statt Technik und Gewichse, rohe Direktheit und erdige Songs, die die Geschlechtsteile in den hirnfreien Schädel treten – findet man in der schärfsten Version seit den frühen THE WHO-Kampfansagen auf diesem Werk.

Das selbstbetitelte 2003er Werk ist nicht nur das Highlight unter vielen in der KILLING JOKE-Geschichte, sondern gehört auch zu den gnadenlosesten, gewalt(ät)igsten, erbarmungslosesten, ruppigsten und mächtigsten Krachalben der 00er Jahre. Ich persönlich halte das Album für eines der drei urgewaltigsten Musikalben seit 2000, welches bis heute in seiner Kraft und Intensität weder von der Band noch von anderen Musikern wieder erreicht wurde.

Es gibt mehrere Fakten, die das Album so speziell und ausnahmslos einzigartig machen. Als erstes fällt der direkte, kernige und drückende, aber zugleich auch extrem rohe sowie voluminöse Sound auf. Die Produktion ist auf diesem Album beispiellos – alles, was ich mir unter einer modernen, aber trotzdem humanen Produktion vorstelle, findet man in Perfektion auf diesem Werk. Die Gitarren sägen und knarzen wie Gitarren, der Bass pumpt druckvoll, und viele unterschwellige Melodien haben Raum zum Atmen. Und das Schlagzeug, ja, das Schlagzeug! Alles, wirklich alles, was auf diesem Album mit diesem Instrument passiert, gehört zu den wohl zehn monumentalsten Schlagzeugaufnahmen der Rockgeschichte.

Da wären diese irren, rostigen und stumpfen Gitarrenriffs, derber als die miesesten Black Metal-Riffs, die sich durch das Album fräsen. Gnadenlos wird hier gewütet, punkig geschrammelt und zwischendurch Bier über den Verstärker verschüttet. So hart die Wahrheit auch klingt, aber von so einer ungehaltenen Kraft sind viele Metalbands weit entfernt.

Und dann wäre da noch dieser Oberpsycho Jaz Coleman, einfach so, weil er es ist: einer der coolsten Frontmänner von der Insel. Stumpf ist Trumpf, und Coleman lebt das so perfekt wie kaum ein anderer mir bekannter Sänger. Seine Stimme ist blutig, rau, monströs und abstoßend. Coleman brüllt und schreit wie ein Primat beim Sex mit Tieren und kann gleichzeitig – also in dem Moment, wo er brüllt und schreit – melodisch eindringlich singen. Das muss man sich mal vorstellen: wie als wenn man bei einer künstlichen Befruchtung einer Kuh Frühlingsvogelgesang darunter mischt. Diese Stimme ist wie ein Zahnarztbesuch, bei dem man beim Ziehen der vergilbten und halb abgebrochenen Zähne die ganze Zeit die Busen der jungen, hübschen Zahnarzthelferin mit halb geöffneter Bluse ins Gesicht gedrückt bekommt. Für mich, völlig unsexistisch gewertet, das Destillat von einem Männergesang. Coleman ist für mich nebenbei auch eine hochinteressante Person, und ich lese immer wieder gerne Interviews von ihm.

Was aber schlussendlich das Album so perfekt macht, ist Dave Grohl. Keine Ahnung, wie man seine Leistung hier beschreiben soll. Der ehemalige Nirvana-Drummer und Foo Fighters-Frontmann gehört nicht gerade zu den Musikern, mit denen ich mich eigentlich beschäftige, aber alleine für seine alles in den Schatten stellende Schlagzeugarbeit auf diesem Album gehört der Mann für immer zu den Schlagzeuggrößen, über die man so philosophieren kann.

Meine verschissene Fresse, wie abartig geil kann man dieses Instrument spielen? Wie kann man nur dieses Instrument so behandeln, wie es ist: ein Krachwerkzeug, an dem man seiner Wut freien Lauf lassen kann. Dave Grohl scheißt auf Blastbeats, Übertechnik, Jazzhintergrund, Taktwechsel im Sekundentakt und all das, was sonst als gekonnt abgestempelt wird. Grohl schlägt und tritt einfach wie ein virusbefallener Serienmörder auf alle Becken, Toms, die Snare und die Bassdrum ein. Es ist unfassbar, wie man diese Urgewalt in der Produktion eingefangen hat. Wie gerne ich wissen möchte, wie oft da neue Felle beim Einkloppen von ‚The Death & Resurrection Show‘ aufgespannt werden mussten. Die Dynamik, dieser Groove, die Beats – alles ist einfach so übermenschlich, dass ich mich immer wieder wie ein Wurm winde, wenn ich das Geschepper um die Ohren gehauen bekomme. Ja, es ist einfach so: Dies hier gehört zu den zehn besten Schlagzeugaufnahmen der Rockgeschichte. Und wer das nicht erkennt, hat dieses Instrument nie wirklich verstanden oder kennt nur Doublebass und Triggertechnik. Das Album kommt mir auch immer wie so ein Denkmal für dieses Instrument vor.

Und die Songs? Ja, die sind halt auch asozial großartig. Auf dem Album stimmt eigentlich alles, was ich bei anderen Werken aus diesem Bereich oft vermisse. Von allen Seiten betrachtet, gehört dieses Meisterwerk ohne Handbremse für mich zu den ganz großen Sternstunden der 00er Jahre. Und die Band selbst sitzt auch ganz weit vorne auf meiner Hirntribüne, wenn es um Krach geht.

Manes - Vilosophe

Manes-Vilosophe

Neben ULVER haben MANES den wohl wahnwitzigsten Kurswechsel in der Black Metal-Zeitlinie vollzogen. Viele Jahre haben MANES Anfang der 90er im tiefsten Black Metal-Underground Demos veröffentlicht, bis sie 1999 mit „Under ein blodraud maane“ ein sehr beeindruckendes Black Metal-Werk hinterließen, das für mich persönlich zu den letzten großen Werken aus Norwegen gehört.

Neben TAAKE gehörten MANES damals zu den hoffnungsvollsten Black Metal-Bands aus Norwegen, und Fans sowie Kritiker erwarteten einen meisterlichen Nachfolger zu „Under ein blodraud maane“. Die Erwartungen wurden mehr als übertroffen, jedoch nicht für die Debüt-Fans, denn was MANES 2003 mit ihrem Meisterwerk „Vilosophe“ präsentierten, war nicht im Ansatz Black Metal. Es war noch nicht einmal Metal.

Der Aufschrei der Fans war ekelhaft abwertend gegenüber „Vilosophe“ – ich habe es in meinem Umkreis selbst miterlebt. Es ist einfach unglaublich, wie man die Fantastik von „Vilosophe“ nicht erkennen konnte. Von Techno, Hip-Hop und sogar Radio-Pop war die Rede. Keine Ahnung, was damals wieder für Drogen populär waren, aber „Vilosophe“ war für mich nicht nur ein Ventil, um mich von der engen Black Metal-Diktatur und ihrer Lächerlichkeit zu verabschieden, sondern auch, um meinen musikalischen Horizont zu erweitern.

Nach dem schon überwältigenden „Themes from William Blake’s The Marriage of Heaven and Hell“ öffnete sich mit dem zweiten Werk von MANES für mich ein neues musikalisches Dimensionstor. Neue Welten, fremde Lebensformen, moderne Ästhetik.

Als ob es erst gestern geschehen wäre, rasierte mir der Eröffnungssong ‚Nodamnbrakes [One Zero/Endpoint]‘ sämtliche Geschmacksnerven samt Wurzeln aus meinem Leben und pflanzte zugleich neue Zellen in meine willige Hauthülle ein. Was für ein glasklarer, hochmoderner, unfassbar ausbalancierter, warmer und zugleich klinisch druckvoller und menschmaschineller Sound da auf mich einstürzte, gehört auch heute noch zu meinen erinnerungswürdigsten Musikerlebnissen.

Ein Gebräu aus Trip-Hop, dezenter Electronica, skalpellscharfen Gitarrenriffs und hämmernden Drums, das zu einem strukturierten Hit verschmolzen wurde, über dem zu guter Letzt ein emotional kalt wirkender Gesang thront. Wie ich damals mit offenem Mund staunend nur die phänomenale Drumspur verfolgt habe. Für mich auch heute noch einer der besten Eröffnungssongs eines Albums in meiner Sammlung.

„Vilosophe“ muss man als Gesamtkunstwerk betrachten. Jeder einzelne Song ist ein weiteres Kunstwerk, ein Puzzleteil eines modernen Klassikers. Die Grundstimmung ist durchweg eher melancholisch, jedoch besitzt jeder Song ein völlig eigenes Farbschema. Von zart zerbrechlich bis stürmisch wütend, von laut bis leise und hin zu emotional aufrüttelnden Gefühlsaufwirbelungen wird man durch einen Klangkosmos gezogen, der die Feinheiten des 70er Progressive Rocks genauso beinhaltet wie die Soundzaubereien von MASSIVE ATTACK und PORTISHEAD und die Statik von modernem Rock besitzt.

Herausstechend im Sound ist eindeutig der außergewöhnliche Gesang, der wie ein weiteres Instrument eingesetzt wird. Ebenso sind die Gitarrenarrangements bombastisch in Szene gesetzt. Nicht eine Sekunde wirkt aufgesetzt oder angeberisch – es gibt leise Soli, harmonische Melodien, wütende und knackige Fetzriffs sowie allerhand Effekte zu bestaunen. Das Album endet dann auch unerwartet „verstörend“ mit einem Monologausschnitt aus dem Film Der Todesking von Jörg Buttgereit, über dem MANES eine langsam aufbauende Klangwand hochziehen.

Ich kann und möchte die Musik nicht weiter mit Worten beschreiben, denn großartige Kunstwerke benötigen keine weiteren Erläuterungen. Was MANES mit „Vilosophe“ abgeliefert haben, gilt für mich schlicht als eines der fantastischsten und mutigsten Musikalben der 00er Jahre. Ein Monument an Kreativität und Weitsicht, befreit von allen musikalischen Fesseln und in der Umsetzung so nah an der Perfektion, dass man es förmlich entgegengeschrien bekommt.

Joy Division - Unknown Pleasures

Joy Division - Unknown Pleasures

Was ist die Hauptformel für wirklich gute Musik? Sind es die technischen Fähigkeiten der Musiker, um überhaupt ansprechende Musik zu produzieren? Ist es im Endeffekt der fähige Produzent, der die Musik (nicht nur) soundtechnisch be- und verarbeitet? Sind sogar die songschreiberischen Fähigkeiten das Nonplusultra?

Meiner Meinung nach sind dies nur optionale Punkte. Musik muss für mich an erster Stelle aus dem Bauch kommen – und das möchte ich als Hörer spüren, und zwar intensiv und als bewusstseinserweiternde Erfahrung.

JOY DIVISION erreichen das nicht nur, sondern gehen teilweise noch weit darüber hinaus und sind eigentlich die komplette Antithese zu den oben genannten Punkten. Die legendäre Band um den extrem charismatischen Sänger Ian Curtis war weder für ihre Glanzleistungen an den Instrumenten bekannt, noch hatte sie eine „hochwertige“ Produktion auf ihren beiden Alben, und auch songschreiberisch war sie ziemlich limitiert. Stephen, der Schlagzeuger, Peter, der Bassist, Ian, der Sänger und Bernard, der Gitarrist und Keyboarder, waren sich dessen bewusst und machten daraus kein Geheimnis.

Sie schrieben einfach Songs. Songs, die bis heute, fast 35 Jahre später, weiterhin Millionen von Menschen berühren. Songs, die viele weitere Bands beeinflussten. Musik, die nichts an Zauberkraft verloren hat. Musik, die unsterblich ist.

Mit gerade mal zwei Alben zählen JOY DIVISION zu den wohl einflussreichsten Bands der modernen Popmusik, obwohl ihre Musik eigentlich nichts damit verbindet. Ganz gleich, ob nun „Closer“ oder „Unknown Pleasures“ das bessere Werk ist – beide Alben sind Geschenke für die Ewigkeit.

Da „Unknown Pleasures“ ein etwas größerer Klassiker ist als „Closer“, darf sich dieses Album hier über ein paar zerstreute Worte freuen.

Als dieses Werk im Sommer 1979 veröffentlicht wurde, waren sich Kritiker, Fans und Presse einig: Die Band würde weltweit Berühmtheit erlangen – eine wahre und tragische Geschichte.

Neben den vier Musikern war es auch Martin Hannett, der das Album produziert hat und der Musik einen unverkennbaren und stilprägenden Sound verpasste. Es war ein basslastiger, karger und kalter Sound, ein schon fast maschineller Dunkeltraum. Obwohl der Klang oberflächlich sehr dünn wirkt, schaffte es Hannett, wie kaum ein anderer Produzent davor und danach, dass jedes Instrument einzeln im Raum pulsiert. Selbst in den lautesten Momenten herrscht Ordnung, und er kreierte einen neuartigen Sound, der wie eine schwermütige und graue Moll-Wolke über der Musik schwebt.

Es ist vielleicht gerade der eröffnende Song ‚Disorder‘, der im Gegensatz zu den restlichen Songs eine fast positive Aura ausstrahlt, ähnlich wie das spätere bandeigene Weltkulturerbe ‚Love Will Tear Us Apart‘. Ein berauschendes und sinnliches Fest an Harmonien und Melodien, bemerkenswert menschlich komponiert, gespielt und gesungen. Peter Hooks prägnantes Bassspiel, das größtenteils wie eine Gitarre agiert, präsentiert sich als ein dicht gewebter Moll-Teppich, begleitet vom Maschinenrhythmus, für den Stephen Morris so bekannt wurde. Kaum zu deuten, aber dennoch spürbar, surren und schwingen die Akkorde von Bernard Sumners Gitarre (generell wird die Gitarre eher wie ein zweiter Bass gespielt, typische Gitarrensounds findet man auf „Unknown Pleasures“ nur sehr selten), bis der tiefe Gesang von Ian Curtis einsetzt. Genau an diesem Punkt, wenn auch noch ein paar Keyboardtupfer dazukommen, spürt man (oder auch nicht) die einzigartige Macht, die diese Band entfesselt.

Die nachfolgenden Songs sind jedoch eher düster und kälter und offenbaren den musikalischen Wert dieser einzigartigen Band. Bis auf das eher unspektakuläre ‚Wilderness‘ bestechen die restlichen Songs durch karge Klanglandschaften, die von Einsamkeit umgeben sind. „Unknown Pleasures“ ist ein seelisch extrem kaputtes Album. Das liegt nicht nur am Hintergrund von Ian Curtis (er litt an Epilepsie, nahm viele Drogen, bekam sein Privatleben nicht in den Griff und war sich wahrscheinlich seines bevorstehenden Suizids bewusst), sondern auch an den extrem persönlichen und dichten Texten, die ein Gefühl von Unbehagen auslösen. Sicherlich erreicht es nicht ganz die verzweifelte, tieftraurige und völlig hoffnungslose Stimmung wie „Closer“, jedoch sind es gerade Songs wie die rhythmische Meisterleistung ‚She’s Lost Control‘, das dichte und bedrückende ‚New Dawn Fades‘ oder das düstere ‚Shadowplay‘, die für das stehen, was JOY DIVISION so einzigartig macht.

„Unknown Pleasures“ ist in seiner Gesamtheit ein Rohdiamant, ein „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ für die aufkommende Wave- und Gothic-Bewegung der Achtziger. Eine Meisterleistung ohne Meisterleistungen – und mit all seinen Ecken und Kanten, ja, sogar Fehlern und Unvermögen – eine der einflussreichsten und bedeutendsten Musikerscheinungen der populären Musik. Bis heute beziehen sich Bands auf diese Musik. Es gibt unzählige Coverversionen einzelner JOY DIVISION-Songs, aber nie wieder wurde solche Musik produziert wie auf „Unknown Pleasures“ und „Closer“. Es sind Alben, die aufzeigen, wie großartig Musik sein kann, wenn sie aus dem Bauch kommt, Gefühle vermittelt und abseits von Anspruch wertvoller sein kann als groß angelegte „Musikkunstwerke“.

Am 18. Mai 1980 erhängte sich Ian Curtis, kurz vor der anstehenden Tournee in den USA, und hinterließ nicht nur eine trauernde Familie, sondern weltweite Fans und eine tragisch „gescheiterte“ Band, die sich umgehend auflöste und unter dem Namen NEW ORDER die Popmusik der Achtziger revolutionierte – jedoch nur sehr selten JOY DIVISION-Songs im Liveprogramm präsentierte.

„Unknown Pleasures“ und „Closer“ gehören mittlerweile zu meinen wichtigsten Musiktherapien und beherbergen jeweils eine eigene Welt, in der man sich zwar nicht immer zurückziehen möchte, aber es ungemein schätzt, dass vier Musiker mit den einfachsten Mitteln so etwas Großes erschaffen haben und der Musikwelt damit ewig erhalten bleiben.

Negative Plane - Stained Glass Revelations

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„Stained Glass Revelations“ gehört für mich zu den besten Werken, die der Black Metal in den letzten Jahren hervorgebracht hat. In der klassischen Trio-Besetzung Bass, Gitarre und Schlagzeug haben NEGATIVE PLANE aus den USA mit ihrem zweiten Album einen einzigartigen und in meinen Ohren perfekten Spagat aus extrem kauziger 80er-Tradition und „modernem“ Black Metal-Charme kreiert – ein Werk, das leider kaum Beachtung fand und völlig unverständlich in einer überfluteten „Szene“ untergegangen ist.

Bereits am sehr eigenwilligen und speziellen Sound merkt man, dass „Stained Glass Revelations“ so gar nichts mit der aktuellen Black Metal-„Mode“ zu tun hat. Verwurzelt in den Tiefen der Achtziger, rumpelt das Schlagzeug (das auch haargenau so klingt) wunderbar authentisch und abwechslungsreich als der treibende Motor durch den Sound. Es orientiert sich eher am Stil eines Clive Burr oder Randy Foxe und mischt dies mit vereinzelten, naturbelassenen Blastbeats. Klangtechnisch ist allein das Schlagzeug schon hervorragend abgemischt und genau an der richtigen Stelle im Sound platziert.

Ein weiteres Soundhighlight ist die Gitarre, die – wie in der Zeit gefangen – mit ihrem Sound eine gewisse 80er-Ästhetik verströmt. Die Riffs sind einfach und prägnant (auf technisches Gewichse wird komplett verzichtet), teilweise unsauber und kratzig, dafür aber unverschämt mitreißend und angenehm aufdringlich. Oft werden sie mit ruhigen Momenten und viel Hall atmosphärisch zum Verlieben inszeniert.

Überhaupt klingt der Gesamtsound wie live in einer Kathedrale eingespielt – ausgestattet mit viel Hall, atmosphärischen Effekten und liebevollen Details. Und das Wichtigste an dem ganzen Album ist, dass NEGATIVE PLANE in der Lage sind, großartige Songs zu schreiben. Songs zwischen 7 und 11 Minuten, ausladende Epik in Schwarz, quietschende Gitarrentöne, hirnzersetzende Berserker-Riffs, okkulte Massenmelodien aus dem Sexkerker, stürmische Opfer-Chöre, peitschendes Donnergrollen der Befruchtung, eisiges Beckenzischen, Hi-Hat-Massaker und wildes Gebrüll im Lustrausch – der Wahnsinn und die Hingabe sind in jedem Song zu spüren.

„Stained Glass Revelations“ ist nach wie vor eines der wenigen herausragenden Black Metal-Alben der letzten Zeit, das nicht nur eine eigene Note besitzt und eine nicht zu fassende Produktion vorweist, sondern vor Charme zu explodieren droht. Für mich ist es sogar das stimmigste, atmosphärischste, coolste (!), authentischste, betörendste und klanglich faszinierendste Black Metal-Album seit „Rain Upon the Impure“.

Kurz gesagt: Die Musik klingt genau so, wie es das Coverartwork abbildet.

Pink Floyd - The Final Cut

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Warum dieses Werk so unbeachtet im Schaffen von PINK FLOYD geblieben ist, ist mir immer noch ein großes Rätsel. Nach dem für mich viel zu überheblichen und schlicht überladenen "The Wall" erschien vier Jahre später mit "The Final Cut" das vielleicht düsterste und traurigste Pink Floyd-Album. Erfrischend reduziert, leise und trotzdem epochal und mit zerbrechlichem Bombast, liefert Roger Waters ein kleines Wunderwerk der intimen Töne ab. Die Floyd-Musiker waren schon immer eher durchschnittliche Könner an ihren Instrumenten, hatten jedoch mit David Gilmour einen der bedeutendsten und herausragendsten Gitarristen der bisherigen Rockgeschichte in der Band.

Über "The Dark Side of the Moon", "Animals" und "Wish You Were Here" zu philosophieren, macht mir mittlerweile auch keinen Spaß mehr. Leute, die ich lieb haben soll, stehen auch zusätzlich noch auf das famose Debüt. Von 1968 bis 1972 hat die Band eher merkwürdigen Kram veröffentlicht. Wenn man ehrlich ist, bekommt man aus diesem Zeitraum, wenn man die großen Songs zusammenschneidet, gerade so ein halbes Doppelalbum zusammen. Völlig egal.

"The Final Cut" höre ich nur alleine – das möchte ich nicht mit anderen Menschen teilen. Gerade Waters, der eigentlich nicht viel besser singen kann als ein Knäckebrot, erschafft mit seiner intimen Stimme eine unglaublich bedrückende Stimmung. Das ist mir auch viel mehr wert als der Flächenbombast und die größenwahnsinnige Produktion des direkten Vorgängers. Waters schafft es mit seiner Stimme, in mir irgendetwas anzusprechen; ich kann mich direkt in die Musik hineinversetzen, fühle mit und bin immer wieder schwer beeindruckt, wie er da seelisch in mich eindringt.

Dass die übriggebliebenen Floyds, Gilmour und Mason, auf diesem reinen Waters-Werk eigentlich nur als billiges Fachpersonal fungieren, macht dem Album überraschenderweise nichts aus. Es passiert wenig (dafür im Hintergrund viel Interessantes). Es ist ein schwermütiges und sehr monotones Werk – wenig Gilmour-Sound, ein kaum wahrnehmbarer Mason – dafür lauert Waters überall. "The Final Cut" besitzt sehr viel Text, kaum Bandsound und wenig laute Momente. Es wird dominiert von Pianoeinlagen, Geräuscheffekten und intensiven Texten.

Waters war für mich schon immer der Ober-Floyd und hat extra nur für mich ein berauschendes Musikwerk mit emotionalem Tiefgang abgeliefert, bevor PINK FLOYD mit den beiden Nachfolgern für mich zu einer komplett anderen Band mutierten. Was man "The Final Cut" vorwerfen kann, ist die maximale Dominanz von Waters. Aber dann bitte konsequent sein und "The Wall" gleich mit in die Puh-Ecke nehmen, und den für mich zu sehr nach Straßenstrich stinkenden 'Not Now John' – da habe ich ständig weibliche Aerobic-Vorturner im Leoparden-Badeanzug mit vollem Achselhaar und verschwitzter Vollrippunterwäsche vor Augen (remember 'Young Lust' – lupenreiner Pornosoundtrack vom Vorgänger).

So ein berauschend-emotionales Werk haben zuletzt vielleicht ANATHEMA Ende der 90er abgeliefert.

Rush - Rush in Rio (DVD)

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Es gibt viele kleine und große Geschichten, die wohl jeder richtige Musikfan zu erzählen vermag. Momente der Erfahrungen, der unersättliche Drang nach Neuentdeckungen, einzelne Werke von unermesslichem Wert, die zur persönlichen "Entwicklungshilfe" maßgeblich beigetragen haben, Gefühlsausbrüche, geschuldet durch musikalische Emotionen, die mit nichts im Leben zu vergleichen sind. Weinende und schon fast schmerzende Begeisterung, an die Zeit gebundene Erinnerungen und Ereignisse, mit denen man eine Beziehung für das ganze Leben eingeht.

So ein Zeitstempel, ein grober Einschnitt in meinem Dasein als Musikschwamm, wurde mir – ich weiß es noch ganz genau – im Oktober 2003 mit der DVD von "Rush in Rio" wie ein Brandzeichen ins Herz mit einem Brenneisen hineingeschmorrt. Ich kannte weder die Band, noch hatte ich vorher irgendwelche Songs (unbewusst) gehört. Ich bin aber immer wieder in meiner aktiven Zeit als Rock Hard-Leser über Artikel und immer leicht versteckte Berichte zu den älteren Alben der Band gestolpert. Das hat mich dann so neugierig gemacht (es hieß in jedem Bericht, dass Rush die beste Band der Welt ist, dass ihre Musik unbeschreiblich ist, weil man es selbst hören muss, dass die Musiker nicht menschlich seien, dass es nur Meisterwerke in der Diskografie zu bestaunen gäbe – bei solchen Aussagen war ich (mittlerweile) immer sehr vorsichtig, aber bei dieser Band kam die Euphorie gefühlt von der gesamten Redaktion, und ich befand mich sowieso gerade in meiner "Neufindungsphase"), dass ich mir direkt zur Veröffentlichung von "Rush in Rio" die DVD ohne Rücksicht auf Verluste gekauft habe.

Tja, was soll ich sagen? Wenn ich richtig überlege, dann ist diese DVD, dieses Live-Dokument, so ziemlich der einzige Zauber, der für mich die gleiche Magie entfacht wie ein "P.U.L.S.E". Jubelnde Menschenmassen, tosende Begeisterungsstürme und dann knallte mir der Eröffnungssong 'Tom Sawyer' entgegen. Wie ich mich immer noch an diese ersten Minuten, die nun auch schon fast 11 Jahre wieder her sind, erinnern kann – als ob es gerade eben erst passiert ist. Dabei hatte ich doch "nur" das Schlagzeug und diesen tiefgrummeligen Überdruck des Basspedals verschlungen. Ich flutschte ein zweites Mal in meinem Leben durch den Geburtskanal und erstarrte für über zwei Stunden vor dem Bildschirm.

Über die Songs möchte ich gar nicht erst groß schreiben, nur so viel: Bei dem Instrumental "La Villa Strangiato" musste ich weinen, bei "Red Sector A" habe ich komplett den Glauben verloren, das Drumereignis "O Baterista" hat mir die Logik aus meinem Hirn entfernt, "The Trees" hat mir reine Schönheit geschenkt, ich wurde bei "Distant Early Warning" so unfassbar gut unterhalten, "Limelight" war bereits beim Erstkontakt einer der großartigsten Rocksongs unserer Zeitrechnung, und "By-Tor and the Snow Dog" ist wohl der coolste Song, den Rush je geschrieben haben.

Man könnte kritisieren, dass '2112' nur in einer sehr mageren Version präsentiert wird (für mich genau die richtige Länge), dass 'Cygnus X-1', schließlich einer der besten Songs aus der 70er-Ära, eigentlich nur kurz angespielt wird (läuft aber im Kontext der Zugabe und ist somit vertretbar) und sträflicherweise "Power Windows", das großartigste Rush-Werk in meinen Ohren, fast komplett umgangen wird.

Rückblickend ist "R30" in allen Belangen natürlich um Welten besser. Allerdings fehlt mir dort die Spontanität, die Echtheit, das unverfälschte Live-Feeling, der Ecken- und Kantensound und die Begeisterung im Publikum. "Rush in Rio" hatte eine ganz spezielle Wirkung auf mich; diese Veröffentlichung war der Auslöser dafür, dass ich in den folgenden drei Monaten alles in Bewegung gesetzt habe, um mich mit dem vollständigen Katalog der Band einzudecken.

Heute höre ich Rush eigentlich nur noch ziemlich selten, aber wenn, dann immer wieder mit der gleichen Freude und dem Genuss wie am ersten Tag – meistens dann auch mehrere Alben hintereinander. Ein Leben ohne "Hemispheres", "Grace Under Pressure", "Moving Pictures", "A Farewell to Kings" oder "Signals" könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen.

Kraftwerk - Trans Europa Express

Kraftwerk-Trans-Europa-Express

1977 entstand mit "Trans Europa Express" in Deutschland nicht nur ein unglaublich einflussreiches Album für die Musikwelt, sondern auch gleichzeitig ein denkwürdiges und visionäres Werk deutscher Musik- und Tonkunst.

In dem Zeitraum von 1970 bis 1973 spielten KRAFTWERK noch eigenwilligen Krautrock, bis die Band mit dem 74er Werk "Autobahn" den ersten Klassiker ihrer Karriere ablieferte. Stilistisch noch meilenweit von den späteren Revolutionsanschlägen wie "Trans Europa Express", "Die Mensch-Maschine" und vielleicht dem einflussreichsten und wegweisendsten KRAFTWERK-Werk "Computerwelt" entfernt, ritten KRAFTWERK auf "Autobahn" bis zur Ewigkeit auf einer einprägsamen Melodie und dem minimalen Text herum, bis es jeder Dorfschüler mitpfeifen konnte. Betrachtet man es genau, ist 'Autobahn' ein schon fast lächerlich einfacher Song, der diese Tatsache jedoch überhaupt nicht versteckt. Den Beweis, dass Musik nicht zwingend anspruchsvoll oder künstlerisch wertvoll sein muss, lieferten KRAFTWERK auf diesem Werk mit dem Titelsong perfekt ab, sodass man dieser Band auf Ewigkeit dankbar sein muss.

Dass viele der Melodien schon deutliche Nähe zu Kinderliedern aufweisen, sei dabei dahingestellt. "Autobahn" gehört rückwirkend betrachtet nicht unbedingt zu den großen Werken im Schaffen von KRAFTWERK, besitzt aber eine wichtige Schlüsselrolle. Es enthält bereits das bekannte KRAFTWERK-Rezept, welches aus meiner Sicht auch heute noch weltweit einzigartig ist: die im ansonsten sehr monotonen, maschinellen, kalten und gefühllosen Sound vorhandene menschliche Wärme. Diese Kombination aus elektronischem Maschinensound, kalten Beats und einem Melodien-Overkill, der manchmal so surreal wirkt, ist bei vielen elektronischen Bands und Künstlern heute Standard. Doch nur bei ganz wenigen spürt man auch die Menschen hinter den synthetischen Klängen. In der Musik von KRAFTWERK spielt die Menschlichkeit immer eine sehr ausgeprägte Rolle – Maschinenmusik von Menschen und nicht andersherum.

Richtig "cool" wurden KRAFTWERK erst mit dem Nachfolger "Radio-Aktivität", auf dem mit dem Titelsong meiner Meinung nach der beste KRAFTWERK-Song überhaupt enthalten ist. Eine fast sieben Minuten andauernde Soundwucht – warm, visionär, raumfüllend und benebelnd – entfaltet ein schon unwirkliches Melodieverständnis der beiden Elektro-Musik-Kaiser Ralf Hütter und Florian Schneider. Auch der Text ist unfassbar gut, doppeldeutig und, genau wie die Musik, seiner Zeit weit voraus. Dieses Werk war noch elektronischer und kälter als der Vorgänger, verfing sich aber teilweise in zu abgedrehten Soundexperimenten und elektronischem Wirrwarr, sodass es etwas in der klassischen Phase unterging. Dennoch mag ich dieses spezielle KRAFTWERK-Album extrem gerne.

Mit dem 1977 veröffentlichten "Trans Europa Express" lieferten die Düsseldorfer dann das erste Überwerk ihrer drei Weltveränderungsalben ab. Schon das vor Geilheit triefende Cover (in der deutschen wie auch in der englischen Version) ist in seiner simplen Idee so großartig umgesetzt, dass die Musik gar nicht schlecht sein kann. Mittlerweile ziehe ich bei den KRAFTWERK-Alben jedoch die englischen Versionen vor, auch wenn sie nicht ganz die Eigenarten der deutschen Versionen erreichen. Ich persönlich bevorzuge den etwas besseren Fluss durch die englische Sprache.

Was KRAFTWERK auf "Trans Europa Express" abliefern, ist schlicht eine musikalische Revolution. Neuartige Sounds, Studiogerätschaften und Technik, wohin man hört, alles mit typisch deutschem Perfektionismus komponiert. Dazu kommen Textfetzen, berauschende Wiederholungen, angenehm experimentelle Elemente und eine Melodiedichte, die man nur schwer in Worte fassen kann. Wie oft habe ich schon vor Freude geweint, wenn der Eröffnungssong 'Europa Endlos' in Fahrt kommt, nachdem die einleitende Melodie durch den einsetzenden Beat und diese atemberaubende, stechende Synthesizer-Melodie abgelöst wird und Kopfportale geöffnet werden – das sind die wahren Wunder der modernen Musik. Momente, die wie ein Parasit mein musikalisches Gedächtnis befallen haben.

Ob das finstere und zurückhaltende 'Spiegelsaal' (wieder ein toller Text), das hart schlagende 'Schaufensterpuppen' mit seiner unterkühlten Monotonie oder der extrem einflussreiche Titelsong, der an sich schon ein kreatives Zentrum durchdachter elektronischer Musik darstellt – "Trans Europa Express" ist das Leben, das nach dem Urknall "Autobahn" das Land betritt. KRAFTWERK befanden sich mit diesem Werk auf der Höhe ihrer Kreativität, formten mehrere Musikstile und prägen bis heute unzählige Musiker.

Mit "Die Mensch-Maschine" wurde der Sound noch wärmer, melodieorientierter, sozusagen der erfolgreichere Zwillingsbruder, bevor man dann mit "Computerwelt" 1981 das prägendste und nachhaltigste Werk ihrer Karriere für die Musikwelt ablieferte.

KRAFTWERK – das ist nicht nur fantastische Musik, es ist das gesamte Konzept hinter der Musik, den Texten und dem visuellen Auftreten. Und nebenbei sind KRAFTWERK, neben CAN, die einflussreichste und bedeutendste deutsche Band für die Pop- und Rockmusik weltweit. Heute vielleicht sogar noch wichtiger als in ihrer aktiven Hochzeit. Und ja, ich bin unverschämt stolz darauf, dass KRAFTWERK eine deutsche Band ist!

Absu - Tara

Absu-Tara

"Tara" ist wohl mein liebstes Air-Drumming-Album. Was mir gestern mal wieder beim Hören bewusst wurde, ist diese aberwitzige, unmoderne Schlagzeugproduktion, die eigentlich viel zu weit im Vordergrund steht. Aber genau diese Besonderheit hebt "Tara" aus der Masse der Black- und Death-Metal-Alben der 00er-Jahre heraus. Nicht nur das – auch das Wunder, das hinter den Kesseln sitzt, lässt mich bis heute immer wieder staunen, mit welcher Hingabe und gewalttätiger Präzision dort ein Schlagzeugkrieg entfacht wird.

Proscriptor, Chef und Kopf hinter ABSU, hat auf "Tara" eine wahnsinnige und erstaunliche Drumperformance abgeliefert. Eine schier unglaubliche Power wütet an den Drums, eine für mich bis heute nie wieder erreichte Intensivleistung in diesem Bereich. Proscriptor ist nicht der schnellste, geschweige denn der technisch versierteste Drummer (obwohl er natürlich eine ganz eigene Technik besitzt), aber seine Präsenz, seine völlig einzigartige (an)treibende Spielweise, dieser druckvolle Punch und speziell diese verrückte Hektik – all das zusammen ergibt eine hochexplosive Mischung, die besonders auf "Tara", dem ohnehin besten Werk von ABSU, ein eigenes Level erreicht.

Eingeleitet von einem ruhigen Dudelsack-Intro, wird das Album gnadenlos mit 'Pillars of Mercy' eröffnet. Ein infernalischer Sturm aus barbarischen Gitarrenriffs, die durch das extrem hektische und treibende Psychodrumming vorangetrieben werden, während sich Proscriptors keifende Stimme durch das Chaos fräst. Bis zum Abschlusstrack 'Stone of Destiny' wird über die gesamte Spielzeit ein bis heute kaum wieder erreichtes Aggressionslevel gefahren – eine Melange aus Black, Thrash und Death Metal, gepaart mit Alcoholocaust-Gitarrenriffs und Prügeldrumming auf einem Niveau, das bis heute fast unangetastet ist.

"Tara" ist eine Sternstunde im Extremmetal, eines der Alben, an dem man Standards festmachen kann. Nebenbei bemerkt, ist ABSU auch eine fantastische Live-Band. Ich hatte sogar das seltene Glück, Proscriptor aus nächster Nähe auf der Bühne zu beobachten. Dieser Moment gehört zu meinen denkwürdigsten Live-Erfahrungen. Mir lief die ganze Zeit der Speichel aus dem Mund, und viele andere Musiker (darunter auch ein gewisser Abbath von IMMORTAL) standen ebenfalls am Bühnenrand und erstarrten vor Ehrfurcht, als Proscriptor eine Lehrstunde in Sachen Powerdrumming ablieferte. Da kann mir einer erzählen, was er will – der Typ, der hinter der Bühne eine so unglaublich ruhige und nette Person ist, ist an diesem Instrument ein Wahnsinniger. Ein Irrer, der vor Energie eigentlich sofort tot umfallen müsste.

Leider ist "Tara" auch das letzte wirklich große Album von ABSU. Nachdem bereits die Vorgänger hervorragend waren, konnte mich das Comeback (Proscriptor brach sich 2002 das Handgelenk, was fast zu einem Ende seiner Karriere führte), das mit neuer Mannschaft 2009 unter dem Titel "Absu" veröffentlicht wurde, nicht mehr wirklich überzeugen. Der Sound war viel zu glatt, es gab keine Ecken und Kanten mehr (eine ganz wichtige Eigenschaft im Sound von ABSU), die Riffs waren fast schon langweilig zu nennen, und die Songs waren im besten Fall durchschnittlich – für eine Band wie ABSU einfach zu unbedeutend. Am schlimmsten jedoch war das viel zu koordinierte Drumming, das zwar immer noch kraftvoll wirkte, jedoch nicht mehr diesen Wahnsinn und die Hektik besaß, die die älteren Veröffentlichungen auszeichnete.

Insgesamt klangen ABSU auch viel professioneller und somit routinierter, fast schon vorhersehbar. Mir fehlten diese irrwitzigen Riffs und vor allen Dingen dieses unkopierbare Psychodrumming sowie eine etwas dreckigere Produktion. Warum diese Band allerdings bis heute nie den großen "Durchbruch" geschafft hat, ist mir nach wie vor ein Rätsel.

"Tara" zählt für mich jedoch zu den Klassikern der 00er-Jahre und ist eines der geilsten "klassischen" Metal-Alben dieses Jahrzehnts. Ein Werk voller Geilheit, losgelöst von der Masse, mit einer der wohl erstaunlichsten Schlagzeugleistungen, die in diesem Jahrzehnt aufgenommen wurde. Kurz: richtig derb geiler Heavy Metal!

The Damned - Machine Gun Etiquette

The-Damned-Machine-Gun-Etiquette

THE DAMNED gehören nun schon seit einigen Jahren zu meinen heftig verehrten Körperbeat-Helden und haben mit ihren ersten vier Alben (das zweite fällt qualitativ etwas ab, ist aber immer noch hübscher als viele andere Punk-Veröffentlichungen) für mich einen persönlichen Lifestyle-Soundtrack erschaffen, sodass ich mir mein Leben ohne diese Musik kaum noch vorstellen mag.

Blöder Punk, Billigmusik, Amateure, musikalischer Müll – das alles hört man ja ganz oft so ähnlich von vielen Heavy-Metal-Gestörten und sogar aus dem eigenen Umfeld, wenn es um das Thema Punk geht. Da braucht man dann auch nicht mit so unglaublichen Weltwundern wie Entertainment!, Metal Box, Prayers on Fire, Pink Flag, Door, Door, Real Life, Fresh Fruit for Rotting Vegetables und einer endlosen Liste ankommen. Da ist der Ofen aus, da bleibt man stur.

Doof nur, dass THE DAMNED so wunderbare Musik veröffentlicht haben, dass man trotzdem nicht aufgibt und diese Zaubermusik weitergeben möchte. Und THE DAMNED haben zum Glück ein Album in ihrer leider viel zu wenig beachteten Karriere, das so vorzüglich dafür geeignet ist, um alle Ekelmäuler zu stopfen.

1979 erschien nämlich mit Machine Gun Etiquette das für mich nicht nur makelloseste Album aus diesem Bereich, sondern auch eines der schönsten (im wahren Wortsinn!) Rockalben, die man sich vorstellen kann. Auf der einen Seite ist Machine Gun Etiquette so befreiend rotzig und lebendig wie das Glücksgefühl-Debüt, auf der anderen Seite präsentieren sich THE DAMNED auf diesem Album als die wirklichen musikalischen Könner, die sie eigentlich von Anfang an waren.

35 Minuten lang zeigt Captain Sensible, was für ein magischer Gitarrist er ist, schüttelt Gitarrenriffs von Welt aus seinem Herzen (wie schön es wäre, wenn es heute noch solche Typen an den Gitarren gäbe!), spielt mit Prog-Rock-Anleihen, erstürmt mit seinen Soli und seinen „ich möchte nackt tanzen“-Melodien und Harmonien meinen Gefühlsvulkan und ist obendrein von vorne bis hinten eine arschcoole Sau.

Neben dem Captain sorgt Dave Vanian für sagenhafte Gesangsmomente, die nicht nur perfekt zur Musik passen, sondern auch sein unglaubliches Talent als Sänger und beneidenswerten Frontmann offenbaren. Allein diese markerschütternden Leistungen gehören zu den fantastischsten Momenten der 70er/80er-Rockmusik. Schlagzeuger Rat Scabies und Bassist Algy Ward bilden das grandiose Rhythmus-Fundament für die Songs.

THE DAMNED mischen auf diesem Album melodischen Punk mit dem anziehenden Rotz der Vorläufer wie THE STOOGES (bekanntlich Großgötter, dazu später mehr), MC5 oder RAMONES, gepaart mit leichten progressiven Einschlägen und Popstrukturen, wie man sie sich nur wünschen kann. Nebenbei werden stark vernebelte Gothic-Blaupausen kreiert, die später bei den Post-Punk-Bands zum Standard wurden. Es ist sagenhaft, welche Kreativität auf diesem Werk vorherrscht, wie abwechslungsreich und musikalisch luftig die Band agiert, mit welcher Leichtigkeit verschiedene Elemente passend zusammengeführt werden und wie einfach und bodenständig das Ergebnis klingt, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre.

Ich heule immer wieder, wenn die ersten drei Songs Love Song (gehört mal eben zu den besten Eröffnungssongs in meiner Kassettensammlung), Machine Gun Etiquette und die Freudenshymne I Just Can't Be Happy Today das Album eröffnen. Ich tanze mit meinem Kuscheltier zu Melody Lee durch die Küche, hüpfe nackt zu Anti-Pope auf meiner Rammelburg, vergreife mich an Mutti's Kaja bei Plan 9 Channel 7 und werfe 100-Euro-Scheine zu Smash It Up aus dem Fenster. Besser geht melodischer (Pop)Rock nicht, ohne dabei die nicht erwähnten Songs abzuwerten.

Auf dem direkten Nachfolger The Black Album, das eigentlich noch melodischer und größer ist, hatte man dann endgültig einen Jahrhundertsong mit The History of the World (Part 1) komponiert.

Machine Gun Etiquette ist so herrlich „einfach“, lebendig und ein großer bunter Glücksmoment, dass man nach 35 Jahren immer noch überwältigt von diesem Meisterwerk ist und trauert, dass solche Musik kaum bis nie wieder komponiert wurde. Es ist ein Werk, das heute zu meinen ganz großen Lieblingen gehört. Das sogenannte Inselalbum, wenn man es denn so will.