
Was ist die Hauptformel für wirklich gute Musik? Sind es die technischen Fähigkeiten der Musiker, um überhaupt ansprechende Musik zu produzieren? Ist es im Endeffekt der fähige Produzent, der die Musik (nicht nur) soundtechnisch be- und verarbeitet? Sind sogar die songschreiberischen Fähigkeiten das Nonplusultra?
Meiner Meinung nach sind dies nur optionale Punkte. Musik muss für mich an erster Stelle aus dem Bauch kommen – und das möchte ich als Hörer spüren, und zwar intensiv und als bewusstseinserweiternde Erfahrung.
JOY DIVISION erreichen das nicht nur, sondern gehen teilweise noch weit darüber hinaus und sind eigentlich die komplette Antithese zu den oben genannten Punkten. Die legendäre Band um den extrem charismatischen Sänger Ian Curtis war weder für ihre Glanzleistungen an den Instrumenten bekannt, noch hatte sie eine „hochwertige“ Produktion auf ihren beiden Alben, und auch songschreiberisch war sie ziemlich limitiert. Stephen, der Schlagzeuger, Peter, der Bassist, Ian, der Sänger und Bernard, der Gitarrist und Keyboarder, waren sich dessen bewusst und machten daraus kein Geheimnis.
Sie schrieben einfach Songs. Songs, die bis heute, fast 35 Jahre später, weiterhin Millionen von Menschen berühren. Songs, die viele weitere Bands beeinflussten. Musik, die nichts an Zauberkraft verloren hat. Musik, die unsterblich ist.
Mit gerade mal zwei Alben zählen JOY DIVISION zu den wohl einflussreichsten Bands der modernen Popmusik, obwohl ihre Musik eigentlich nichts damit verbindet. Ganz gleich, ob nun „Closer“ oder „Unknown Pleasures“ das bessere Werk ist – beide Alben sind Geschenke für die Ewigkeit.
Da „Unknown Pleasures“ ein etwas größerer Klassiker ist als „Closer“, darf sich dieses Album hier über ein paar zerstreute Worte freuen.
Als dieses Werk im Sommer 1979 veröffentlicht wurde, waren sich Kritiker, Fans und Presse einig: Die Band würde weltweit Berühmtheit erlangen – eine wahre und tragische Geschichte.
Neben den vier Musikern war es auch Martin Hannett, der das Album produziert hat und der Musik einen unverkennbaren und stilprägenden Sound verpasste. Es war ein basslastiger, karger und kalter Sound, ein schon fast maschineller Dunkeltraum. Obwohl der Klang oberflächlich sehr dünn wirkt, schaffte es Hannett, wie kaum ein anderer Produzent davor und danach, dass jedes Instrument einzeln im Raum pulsiert. Selbst in den lautesten Momenten herrscht Ordnung, und er kreierte einen neuartigen Sound, der wie eine schwermütige und graue Moll-Wolke über der Musik schwebt.
Es ist vielleicht gerade der eröffnende Song ‚Disorder‘, der im Gegensatz zu den restlichen Songs eine fast positive Aura ausstrahlt, ähnlich wie das spätere bandeigene Weltkulturerbe ‚Love Will Tear Us Apart‘. Ein berauschendes und sinnliches Fest an Harmonien und Melodien, bemerkenswert menschlich komponiert, gespielt und gesungen. Peter Hooks prägnantes Bassspiel, das größtenteils wie eine Gitarre agiert, präsentiert sich als ein dicht gewebter Moll-Teppich, begleitet vom Maschinenrhythmus, für den Stephen Morris so bekannt wurde. Kaum zu deuten, aber dennoch spürbar, surren und schwingen die Akkorde von Bernard Sumners Gitarre (generell wird die Gitarre eher wie ein zweiter Bass gespielt, typische Gitarrensounds findet man auf „Unknown Pleasures“ nur sehr selten), bis der tiefe Gesang von Ian Curtis einsetzt. Genau an diesem Punkt, wenn auch noch ein paar Keyboardtupfer dazukommen, spürt man (oder auch nicht) die einzigartige Macht, die diese Band entfesselt.
Die nachfolgenden Songs sind jedoch eher düster und kälter und offenbaren den musikalischen Wert dieser einzigartigen Band. Bis auf das eher unspektakuläre ‚Wilderness‘ bestechen die restlichen Songs durch karge Klanglandschaften, die von Einsamkeit umgeben sind. „Unknown Pleasures“ ist ein seelisch extrem kaputtes Album. Das liegt nicht nur am Hintergrund von Ian Curtis (er litt an Epilepsie, nahm viele Drogen, bekam sein Privatleben nicht in den Griff und war sich wahrscheinlich seines bevorstehenden Suizids bewusst), sondern auch an den extrem persönlichen und dichten Texten, die ein Gefühl von Unbehagen auslösen. Sicherlich erreicht es nicht ganz die verzweifelte, tieftraurige und völlig hoffnungslose Stimmung wie „Closer“, jedoch sind es gerade Songs wie die rhythmische Meisterleistung ‚She’s Lost Control‘, das dichte und bedrückende ‚New Dawn Fades‘ oder das düstere ‚Shadowplay‘, die für das stehen, was JOY DIVISION so einzigartig macht.
„Unknown Pleasures“ ist in seiner Gesamtheit ein Rohdiamant, ein „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ für die aufkommende Wave- und Gothic-Bewegung der Achtziger. Eine Meisterleistung ohne Meisterleistungen – und mit all seinen Ecken und Kanten, ja, sogar Fehlern und Unvermögen – eine der einflussreichsten und bedeutendsten Musikerscheinungen der populären Musik. Bis heute beziehen sich Bands auf diese Musik. Es gibt unzählige Coverversionen einzelner JOY DIVISION-Songs, aber nie wieder wurde solche Musik produziert wie auf „Unknown Pleasures“ und „Closer“. Es sind Alben, die aufzeigen, wie großartig Musik sein kann, wenn sie aus dem Bauch kommt, Gefühle vermittelt und abseits von Anspruch wertvoller sein kann als groß angelegte „Musikkunstwerke“.
Am 18. Mai 1980 erhängte sich Ian Curtis, kurz vor der anstehenden Tournee in den USA, und hinterließ nicht nur eine trauernde Familie, sondern weltweite Fans und eine tragisch „gescheiterte“ Band, die sich umgehend auflöste und unter dem Namen NEW ORDER die Popmusik der Achtziger revolutionierte – jedoch nur sehr selten JOY DIVISION-Songs im Liveprogramm präsentierte.
„Unknown Pleasures“ und „Closer“ gehören mittlerweile zu meinen wichtigsten Musiktherapien und beherbergen jeweils eine eigene Welt, in der man sich zwar nicht immer zurückziehen möchte, aber es ungemein schätzt, dass vier Musiker mit den einfachsten Mitteln so etwas Großes erschaffen haben und der Musikwelt damit ewig erhalten bleiben.
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