Dienstag, 20. Oktober 2015

PJ Harvey - Die großartig(st)e Künstlerin, die mich verändert hat

PJ-Harvey













PJ Harvey ist für mich die größte musikalische Entdeckung, seit ich den Heavy Metal für mich entdeckt habe. Irgendwann 2008 bin ich, wie auch immer, auf ein paar Songs von dem Album „White Chalk“ gestoßen. Mich hat selten Musik so schnell und ohne jegliche „Inkubationszeit“ gefangen genommen und mich auf eine unbeschreibliche Weise befreit.

„White Chalk“ war also mein offizieller Einstieg in das Schaffen dieser für mich persönlich großartigen Künstlerin, die es geschafft hat, dass ich wochenlang nichts anderes mehr gehört habe. Dabei ist „White Chalk“, rückblickend betrachtet, eigentlich das „falscheste“ Album, um PJ Harvey zu entdecken. Es ist ein extrem intimer, persönlicher, zerbrechlicher und klagender, düsterer Seelenstriptease von Polly Jean. Eigentlich schwer verdaulich und nur in bestimmter Stimmung zu genießen. Ich aber war sofort verliebt wie noch nie und habe dem Werk meine ewige Treue geschworen.

Da auf „White Chalk“ keine E-Gitarren enthalten sind und die Musik größtenteils komplett auf akustischen Instrumenten eingespielt wurde, untermalt von einem simplen Piano und Harveys extrem hoher Stimme – leidend, schreiend, klagend, wütend, traurig, schmerzlich und zurückhaltend schön – klingt das Album wie ein vertonter Trauerzug, der Soundtrack auf dem Sterbebett. Es sind solche berührenden Momente wie das bittersüße ‚Silence‘, das hoffnungslose ‚Dear Darkness‘, der verträumte Titelsong oder das elegische ‚The Mountain‘, die einen extrem bedrückenden Zauber heraufbeschwören.

Es folgten „Rid of Me“, „To Bring You My Love“ und „Stories from the City, Stories from the Sea“ – genau in dieser Reihenfolge. Wieder wurde ich von der diesmal ausufernden, obsessiven und dreckigen Musik um den Verstand gebracht. Ich war dieser vielfältigen Künstlerin hoffnungslos verfallen. Mit jedem weiteren Album erkannte ich, dass PJ Harvey ein musikalisches Chamäleon ist – unberechenbar und mit einer unverschämten Gabe ausgestattet, großartige Songs und so unterschiedliche Musik zu komponieren.

Dieser lustvolle Höhepunkt im Opener ‚Rid of Me‘, wenn sie schreit: „Lick my legs I’m on fire, lick my legs of desire", hat mich in eine zitternde Testosteronbombe verwandelt: brennende Erektion, gefolgt von einer schmerzvollen Ejakulation. Das kaputte ‚Legs‘ mit wildem Schlagzeug, rohem Gitarrenklang und einer obsessiven Harvey, das verstörende ‚Man-Size Sextet‘ mit diesen fieberhaften Streichern oder das pumpende und ungehobelt nach vorne polternde ‚50Ft Queenie‘ sind urgewaltige Anschläge auf die Sinne. Neben dem schon wunderbar lockeren Debüt „Dry“ von 1992 besitzt der Nachfolger „Rid of Me“ noch einen unglaublichen, realistischen Sound und eine wunderbare, dreckige Produktion vom Großmeister Steve Albini.

Mit „To Bring You My Love“ hatte ich dann das für viele als bestes Album geltende Werk erforscht. Musikalisch hat Harvey später noch bessere Werke geschrieben, aber was das originelle Songwriting angeht, ist dies aus meiner Sicht die abwechslungsreichste und künstlerisch wertvollste Platte, die sie aufgenommen hat. Düster, bedrohlich, verrückt, komplex, ausbrechend, belastend und faszinierend schön – wie die Wasserleiche auf dem Cover. Vielleicht ist „To Bring You My Love“ sogar mein Lieblingsalbum, jedenfalls streitet es sich mit „White Chalk“ und „Stories from the City, Stories from the Sea“ um das beste weibliche Album in meiner Sammlung.

Diese tiefe Gitarre, die nachtschwarzen Orgeln und dieser intensive, ausdrucksstarke und gnadenlose Gesang von Harvey im Opener ‚To Bring You My Love‘ – eindringlich bis ins Knochenmark und hocherotisch! Das folgende ‚Meet Ze Monsta‘ mit diesem Monster von einem Basssound und dieser verruchten, willigen Harvey, die hier wie eine drogenzerstörte Prostituierte wirkt – betörend geil! Dann dieser schleichende Horrorsong mit Gänsehautfaktor, ‚Working For The Man‘, in dem Harvey wie eine gestörte Monsterpuppe hinter der Tür im dunklen Zimmer lauert.

Auch der Sound hat sich wieder verändert. Weg von dem knallharten und rohen Garagen-Sound (der trotzdem einfach großartig ist!) auf dem Vorgänger, ist die Produktion auf „To Bring You My Love“ klarer, druckvoller und basslastiger. Trotzdem gibt es Lärm, mit einem spürbar nahen Instrumentensound, viel Feedback und Verzerrereffekte, die dem kühlen Grundton eine vertraute Wärme geben. Er betont die Songs perfekt, legt mehr Wert auf ein düsteres Klangbild und lässt es zum ersten Mal wie ein Bandalbum klingen, wo bei den beiden Vorgängern ganz klar Harvey im Vordergrund stand. Der Basssound ist leicht dominant und schwer drückend (übrigens ein grandioser Bassgitarrensound), die Gitarren eher lieblicher und zurückhaltend aggressiv, das Schlagzeug klingt weicher und raumausfüllender, und der Gesang von Harvey ist bis dato am perfektesten in Szene gesetzt.

Polly Jean lässt zum ersten Mal an der Oberfläche erkennen, was für eine Energie und Talent in dieser Künstlerin steckt. Ihre Gesangsleistung auf dem Album ist meisterhaft, abwechslungsreich und knisternd erotisch, dabei aber immer aggressiv und ungebändigt. Mitreißend, wie sie in ‚Down By The Water‘ die Textzeilen „Little fish, big fish swimming in the water / come back here, man, gimme my daughter“ eindringlich flüstert, dazu dieser knarzend-wummernde Bass. Mit ‚The Dancer‘ wird dieses stilistisch eindrucksvolle Werk schwebend beendet.

Mit „Stories from the City, Stories from the Sea“ brachte PJ Harvey im Jahr 2000 ihr bis heute zugänglichstes und songorientiertestes Werk hervor. Ein wahres Hit-Feuerwerk mit wunderschönen Melodien, Gesangslinien und einer wunderbar aufspielenden Band. Eröffnet von dem mächtigen ‚Big Exit‘, in dem Harvey stimmlich von der ersten Sekunde an begeistert, bekommt man zeitlose und einfach richtig gute Rocksongs wie ‚Good Fortune‘, ‚Kamikaze‘ oder ‚This Is Love‘ in das Hirn gepflanzt. Und mit ‚The Whores Hustle And The Hustlers Whore‘ wird sogar einer der besten Harvey-Songs rausgeschmissen. Daneben stehen die ruhigeren und leichteren Songs wie ‚A Place Called Home‘, ‚One Line‘, das einfühlsame ‚Beautiful Feeling‘, das Duett mit Thom Yorke von Radiohead oder das federleichte, beschwingliche ‚You Said Something‘.

Auch die etwas stiefmütterlich behandelten Alben wie „Is This Desire?“ und besonders das wieder sehr ruppige „Uh Huh Her“ mit seinen explosiven Handgranaten ‚Cat On The Wall‘, ‚The Life And Death Of Mr. Badmouth‘, ‚The Letter‘ und ‚Who The Fuck‘ sind destilliertes Liebeskonzentrat.

Das aktuelle Werk „Let England Shake“ ist bis heute Harveys ambitioniertestes Album, das irgendwie aus allen Alben etwas besitzt und trotzdem frisch und neu klingt. Für mich stellt sich die Frage nach dem besten Harvey-Werk eher selten, denn ich liebe jedes einzelne Album auf seine ganz besondere Weise.

Seit 2008 gibt es für mich nichts Schöneres, als mit dieser – nebenbei auch noch wunderschönen – Frau mit dem markanten Mund, der einprägsamen Nase und den tausend Gesichtern ins Bett zu gehen und mich komplett der großartigen Musik dieser Frau hinzugeben.

Polly Jean Harvey ist für mich schlicht und ergreifend die beste Rocksängerin aller Zeiten, eine unglaublich interessante und anziehende Musikerin und mein wahrgewordener Musiktraum.

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